Sie sind Mann und Frau, aber auch Komponist und Texterin: David Gilmour ist weltberühmt als Gitarrist von Pink Floyd, Polly Samson veröffentlicht Romane. Hier erzählen sie, wie ein Albumprojekt den Alltag verschlingt.
Zur Person:
David Gilmour, 69, kam zunächst als Unterstützer, dann als Ersatz für seinen Schulfreund Syd Barrett zu Pink Floyd. Sein Gitarrenspiel prägte die englische Band, die er seit 1985 anführte, nach dem unter Streit erfolgten Ausstieg von Roger Waters - ein Name, dessen Nennung die Stimmung in Gesprächen mit Gilmour kippen lassen kann. Am Rande seines einzigen Deutschland-Konzertes zum vierten Soloalbum "Rattle that Lock" in Oberhausen stellte sich Gilmour den Fragen von SPIEGEL ONLINE gemeinsam mit seiner Ehefrau Polly Samson, 53. Die Schriftstellerin verfasst seit dem Pink-Floyd-Album "The Divison Bell" die Songtexte zu Gilmours Kompositionen.
SPIEGEL ONLINE: Mrs. Samson, Sie sind eine erfolgreiche Schriftstellerin. Macht es Ihnen Vergnügen, auf Zuruf die Texte für die Platten Ihres Gatten zu tippen?
Samson: Oh, für mich ist es perfekt. Ich habe vier Jahre damit verbracht, Bücher zu schreiben. In einem Raum, ganz allein. Das ist keine wirklich kollaborative Arbeit, wie Sie sich vorstellen können. Und gerade, als ich die Worte "The End" unter mein letztes Buch setzte, kam von ihm: "Hurra! Schatz, mein Album wäre dann so weit!"
SPIEGEL ONLINE: Mr. Gilmour, mit Polly Samson arbeiten Sie nun schon länger zusammen als mit "Er, dessen Name nicht genannt werden darf" …
Gilmour: (seufzt tief)
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie beide manchmal auch so etwas wie "künstlerische Differenzen"?
Gilmour: Nein, kaum.
Samson: Warum schauen Sie mich so an? Sie wollen wissen, ob David die Wahrheit sagt? Warten Sie, ich zeige Ihnen mal die Narben (beginnt, den Ärmel ihres Kleides hochzukrempeln).
SPIEGEL ONLINE: Was trägt Ihr Mann konkret zu Ihrer Arbeit bei?
Gilmour: Jeder Tag hat einen Moment, an dem wir miteinander teilen, was wir gemacht haben.
Samson: Wenn ich an einem Roman schreibe, lese ich David das vor. Wenn er Musik macht, spielt er sie mir vor.
SPIEGEL ONLINE: Das ist eine ungleiche Verteilung.
Gilmour: Inwiefern?
SPIEGEL ONLINE: Ihre Frau schreibt Ihnen die Texte, und Sie hören sich im Gegenzug die Texte Ihrer Frau an?
Gilmour: Ich bin mehr als ein Zuhörer. Ich bin Kritiker, in geringerem Maße vielleicht auch Lektor. Ich bin ihr erster Leser und gebe mir Mühe, ihr meine Eindrücke zu schildern. Ist es nicht das, was ein Schriftsteller braucht?
SPIEGEL ONLINE: Im Gegensatz zu einem Musiker.
Gilmour: Das würde ich nicht sagen. Meine Arbeitszeit verbringe ich auch allein. Erst gegen Ende eines Projekts kommen bei mir ein paar mehr Leute zu Besuch. Ich neige nicht dazu, mit einer Band zu arbeiten. Moderne Studiotechnologie kommt mir sehr entgegen. Da hat sich ja einiges getan in den letzten 30, 40 Jahren.
SPIEGEL ONLINE: Das Thema von "Rattle That Lock" (eine Kurzkritik des Albums finden Sie am Ende des Artikels) haben Sie auf dem Bahnhof von Aix-en-Provence aufgenommen - mit dem Smartphone.
Gilmour: Ich bin offen für alle Arten von Geräuschen, und dieses ist mir aufgefallen. Also habe ich mir mit meinem Telefon eine akustische Notiz gemacht. Ich stand mit diesem Gerät direkt unter dem Lautsprecher und wartete auf die nächste Ansage.
Samson: Er macht das wirklich. Mein Mann sammelt Geräusche.
Gilmour: Manchmal benutze ich sie für meine Musik, manchmal nicht. Ich finde es aber schön, sie zu haben.
SPIEGEL ONLINE: Und wie finden Franzosen diesen Jingle? Schließlich hören sie das Geräusch jeden Tag!
Gilmour: Ich frage alle französischen Journalisten auch, ob es ihnen schon zum Hals heraushängt. Bisher sagten alle, dass ihnen dieses Geräusch nie aufgefallen sei. Ich hätte dafür gesorgt, dass es wieder zum Vorschein kommt.
SPIEGEL ONLINE: Ist Ihr Gehör nach bald 50 Jahren lauter Rockmusik eigentlich noch gut?
Gilmour: Wie bitte?
SPIEGEL ONLINE: Ich fragte, ist Ihr Gehör …
Gilmour: Reingefallen! Auf diese Frage habe ich gewartet. Mein Gehör ist nicht mehr perfekt, aber okay.
SPIEGEL ONLINE: Wenn Sie allein im Studio sind, spielen Sie dann mit allem herum, was es da gibt?
Gilmour: Ich spiele viel Gitarre und Klavier, zum Komponieren zuletzt sogar lieber Klavier. Ich bin ein miserabler Klavierspieler. Aber, wie ich schon sagte, die moderne Studiotechnologie ist ein Segen. Ich kann beispielsweise Fehler korrigieren. Ich mache viele Fehler, müssen Sie wissen.
SPIEGEL ONLINE: Sie kokettieren!
Gilmour: Es ist die reine Wahrheit.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie feste Arbeitszeiten?
Samson: Es eskaliert. Gegen Ende eines Projekts gibt es eigentlich nur noch Arbeit. Am Anfang fügt es sich in den Alltag, mit den Kindern, der Schule, den sozialen Verpflichtungen. Am Ende aber verschlingt es alles, und wir denken beide an nichts anderes mehr.
Gilmour: Projekte neigen dazu, sich aufzutürmen und Fahrt aufzunehmen. Und dann müssen Sie immer härter arbeiten, um am Ball zu bleiben.
SPIEGEL ONLINE: Was setzt dieses Projekt in Gang?
Gilmour: Es ist meine Arbeit. Es ist meine Liebe. Es ist meine Leidenschaft. Es begleitet mich schon mein ganzes Leben. Außerdem wüsste ich nicht, was ich sonst tun sollte.
SPIEGEL ONLINE: Sie sind bald 70 Jahre alt und könnten sich darauf beschränken, Ihre Vergangenheit zu kuratieren.
Gilmour: Die Vergangenheit war glorreich, aber ich lebe nicht in ihr.
Samson: Das ist ein anderes Land.
SPIEGEL ONLINE: Ein großes Land.
Gilmour: Es neigt zu Invasionen, ja.
SPIEGEL ONLINE: Ist das eine Bürde?
Gilmour: Eine Bürde sind die Erwartungen und Wünsche, die andere Leute meiner Vergangenheit entgegenbringen. Die Vergangenheit selbst ist keine Bürde. Die Vergangenheit war großartig. Sie war voller Spaß und Befriedigung und Gelächter … und ein wenig Verschlechterung ganz am Ende, zu einem winzigen Teil. Es gibt andere Leute, die sehr gerne in der Vergangenheit leben würden. Jedenfalls mehr als ich.
SPIEGEL ONLINE: Wenn Sie entscheiden könnten, ob Sie ab Morgen ohne Ihre Stimme oder ohne Ihre Fähigkeit zum Gitarrespielen leben müssten - was würden Sie wählen?
Gilmour: Ich glaube, ich würde lieber meine Stimme behalten. Ich könnte sie benutzen, um anderen Gitarristen zu sagen, was sie spielen sollen.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie das Gefühl, mit den Jahren besser zu werden?
Gilmour: Hoffentlich verbessern wir uns alle fortwährend, oder? Ich finde, dass meine Stimme besser wird. Mein Gesang.
SPIEGEL ONLINE: Aber ein Gitarrist, kann der wirklich "besser" werden?
Gilmour: Ich bin mir nicht sicher, ob ich besser geworden bin. Vielleicht spiele ich zu viele Soli. Haben wir nicht neulich darüber gesprochen?
Samson: Ja, zu viele Soli.
Gilmour: Um ehrlich zu sein, bin ich von Perfektion noch ein kleines Stückchen entfernt. Wahrscheinlich werde ich sie nie erreichen.
SPIEGEL ONLINE: Kann es Perfektion in der Kunst geben?
Gilmour: Perfektion kann es nirgendwo geben.
SPIEGEL ONLINE: Fühlen Sie sich im Studio oder auf der Bühne wohler?
Gilmour: Ich sollte mich im Studio wohler fühlen, weil ich dort die meiste Zeit verbringe. Die Arbeit würde sich aber unvollständig anfühlen, wenn ich sie nicht auf der Bühne präsentieren würde. Das ist ein Teil des Prozesses.
SPIEGEL ONLINE: Und jetzt erzählen Sie gleich, dass Sie viel lieber in kleinen Klubs spielen, weil es dort intimer zugeht …
Gilmour: Im Gegenteil! Ich habe zwar nichts dagegen, nur für 1000 Leute zu spielen. Ich bin aber noch lieber gerne Teil einer Show, die so komplex ist, dass sie für ihr Funktionieren schon einen gewissen Raum beansprucht. Das ist auch relativ: Was dem einen als groß erscheint, kommt dem anderen eher klein vor.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es auch Augenblicke auf der Bühne, in denen Sie plötzlich von sich selbst gelangweilt sind?
Gilmour: Ich sollte das nicht sagen …
Samson: Du solltest das nicht sagen!
Gilmour: … aber ich fürchte, das ist mir schon passiert. Auf dieser Tournee noch nicht. Aber in meiner Vergangenheit gab es Momente, in denen ich mit der Gitarre auf der Bühne stand und dachte: "What the fuck"! Was mache ich hier? Warum bin ich hier? Was ist dieses Ding in meiner Hand? Worum geht es?
SPIEGEL ONLINE: Wo sind Sie, wenn Sie Gitarre spielen?
Gilmour: Hoffentlich verloren. Verloren in diesem Moment … dem kommenden Akkord folgend … in der Hoffnung, an einen Ort vor der nächsten Note zu kommen. Ich weiß nicht, wie ich das besser erklären könnte …
SPIEGEL ONLINE: Antizipation?
Gilmour: Ja, ich will den kommenden Ton vorausahnen und ihm folgen, um das Solo in die Richtung zu führen. Das ist schwer, in Worte zu fassen.
SPIEGEL ONLINE: Ist es eine Trance? Vergleichbar mit dem Schuster oder Bäcker, der bei seiner monotonen Arbeit ...
Gilmour: Ein Handwerk? Ja, es hat etwas Handwerkliches. Das ist aber nur Mittel zum Zweck, den Zustand einer Trance zu erreichen. Ich bin an einem Ort, wo ich mein bewusstes Denken fahren lasse, um mit dem Unterbewussten zu schwimmen und einer Melodie zu erlauben, aus meinen Fingern zu kommen.
SPIEGEL ONLINE: Ich nehme an, das ist ein sehr lohnendes Gefühl.
Gilmour: Ihre Annahme ist korrekt.
Kurzkritik "Rattle that Lock"
In französischen Bahnhöfen werden Durchsagen mit einem Jingle aus vier Tönen angekündigt. David Gilmour hat diesen Gebrauchsklang aufgenommen und daraus die verhältnismäßig flotte Single "Rattle that Lock" abgeleitet. Klangexperimente mit Alltagsgeräuschen, einst Markenzeichen von Pink Floyd, gibt es also noch. Ansonsten obwaltet auf Gilmours viertem Soloalbum luxuriöse Gediegenheit. In drei Instrumentals perlt seine Gitarre mit der melancholischen Ziellosigkeit dahin, wie sie vom finalen Pink-Floyd-Album "The Endless River" sattsam bekannt ist. Die eigentlichen Songs reichen von lässigem Walzer über luftigen Jazz bis zu Balladen, die auch "The Division Bell" nicht schlechter gemacht hätten. Einsamer Höhepunkt ist das schleichende "In Any Tongue", das beste "Comfortably Numb" seit "Comfortably Numb". Mit "Rattle that Lock" krönt David Gilmour den Palast seiner Verdienste durch ein weiteres überflüssiges Türmchen - von dem aus man aber sein Schaffen mit Wohlgefallen überblicken kann. (fra)