von:
Thomas Kohlruß (Rezension 1 von 5)
Möglicherweise wird die zweite Jahreshälfte des Jahres 2003 als die Manifestation eines feuchten Traums aller Retro-Proggies in die Geschichte eingehen.... erst betrat Kaipa's Keyholder die Szenerie und jetzt kommt nur unwesentlich später The Tangent mit dem vorliegenden "The Music That Died Alone" ans Licht bzw. in die Ohren. Da kann man schon von wahrwerdenden Träumen sprechen. Und wenn "Keyholder" vielleicht noch ein etwas zwiespältiges Echo hervorgerufen hatte, stehen die Chancen bei The Tangent gut, dass es hier zu einem einhelligen Aufschrei der Begeisterung kommen wird.
Aber mal von vorne, soweit sich die Geschichte aus verschiedenen Internet-Quellen recherchieren lässt: Wieder ein Retro-Prog-Album, wieder ein "All-Star-Projekt", wieder ein Stück aus der Welt von Roine Stolt.... nicht ganz diesmal. Zwar ist Roine auch hier wieder dabei (und mit ihm auch die Rhythmus-Sektion der Flower Kings, Jonas Reingold und Zoltan Czorsz), aber "Mastermind" von The Tangent ist der Parallel or 90 Degrees-Leader Andy Tillison. Und so richtige "Stars" sind die Beteiligten ja eigentlich auch nicht.... Andy Tillison wollte ursprünglich ein Soloalbum im Stile des Progressive Rocks der 70er Jahre einspielen, da ihm dies die musikalische Entwicklung seiner Stammband unmöglich machte, und zeichnet daher auch für sämtliches Songwriting verantwortlich. Über einen gemeinsamen Freund (den Webmaster der Flower Kings-Homepage) kam dann Roine Stolt ins Spiel. Und dieser brachte dann wiederum die Idee der Integration von Blasinstrumenten ein (was zunächst wohl gar nicht so sehr im Sinne von Andy Tillison war) und so wurde David Jackson, der das Saxophon zumindest sehr ungewöhnlich und eigenständig einsetzt, bekannt von Van der Graaf Generator, zu den Sessions eingeladen. So kommt es also, dass hier tatsächlich drei Generationen von Progressive Rock-Musikern (wie auch von der Promotion immer wieder breitgetreten wird) zusammenspielen. Guy Manning, der eher aus der Singer-Songwriter-Ecke kommt, ist vielleicht von daher der ungewöhnlichste Teilnehmer. Aber anscheinend kennen sich Andy Tillison und er schon von früheren gemeinsamen musikalischen Aktivitäten. Auch wenn Roine Stolt hier "nur" Gitarre spielt und gelegentlich singt, setzt er aber seine unverkennbaren Akzente und es ist schon faszinierend, dass bei diesem Arbeitspensum (die letzte Flower Kings-CD ist noch nicht lange her, dann war da noch die Karmakanic, das Soloalbum vom Tomas Bodin und eben Kaipa....) kaum mal 'was schlechtes dabei ist. Wie stark mit diesem Album Parallel Or 90 Degrees repräsentiert werden, kann ich mangels Kenntnis derer Alben nicht beurteilen.
Musikalisch spiegelt das Album natürlich die Intention von Andy Tillison wieder: Ein Hommage an den klassischen 70er-Jahre-Prog... und dies gelingt perfekt, ohne Peinlichkeiten. Schon der erste Longtrack, knapp 20 Minuten, unterteilt in 8 Teile, ist eine Mischung aus Yes-Genesis-King Crimson-VdGG-ELP par excellence. Das Intro wird bestimmt von Tillisons dominanter Hammond, wird aufgegriffen von Stolts Gitarre und dem einmaligen Sax-Spiel von David Jackson. Ein echter "Hallo Wach!"-Beginn, bevor in "Night Terrors" mit dem Gesang von Roine Stolt (und vor allem dem Background-Gesang) ein bisschen Flower Kings-Feeling aufkommt, aber nur kurz. Der nächste Part "The Midnight Watershed" wird dominiert von sirrenden Gitarren, jazzigem Piano und dröhnender Hammond, Van der Graaf meets ELP meets Yes

....und so weiter. "In Dark Dreams" singt dann erstmals Tillison, der überhaupt die meisten Gesangsparts hat, während Guy Manning den Gesang im nächsten Abschnitt "The Half-Light Watershed" übernimmt. Alle Sänger klingen sich aber stimmlich ähnlich, so dass ein sehr einheitlicher Eindruck entsteht. "A Sax In The Dark" gibt wie der Name schon sagt zunächst David Jackson einigen Raum, aber auch der akustischen Gitarre und einer erneut ziemlich dominant-röhrenden Hammond (Andy Tillison hat dieses Instrument wirklich 'drauf).
"The Canterbury Sequence" trägt seinen Namen zurecht.... hier wird der Geist von Canterbury-Bands wie Caravan, Hatfield and The North, Soft Machine beschworen. Dies ist nun nicht gerade ein Spezialgebiet des Rezensenten, aber so wie das hier dargeboten wird, ist es eine Einladung, sich endlich auch mal mit dieser Spielart des Prog auseinanderzusetzen. Hammond, Gitarre, Gesang alles scheint förmlich zu schweben und kommt mit einer ungeheuren Leichtigkeit daher. Hinzu kommen noch elegante Flöten-Parts von David Jackson. Der Teil "Captain Manning's Mandolin" bietet dann eben auch noch diesen an diesem Instrument, sehr schön.
Dann kommt der zweite "Hallo Wach!"-Ruf auf dieser CD: "Up-Hill From Here" katapultiert das Album von den 70ern in die Neuzeit. Sirrende Synthesizer, druckvolle Drums und das Saxophon-Spiel von David Jackson wie zu besten VdGG-Zeiten treiben den Song nach vorne, dazu gesellt sich die jaulende Gitarre von Roine Stolt. Das Teil rockt! Für mich sicherlich der Höhepunkt des Albums, schon weil es zeigt, The Tangent muss nicht ein einmaliges "All-Star-Retro-Prog"-Projekt bleiben, sondern hat echtes, eigenständiges Band-Potential. Und welch' tolle Gitarrenarbeit von Roine Stolt... es steckt tief in ihm doch ein echter Rocker!
Zum Abschluss wird dann im Titelsong, wieder unterteilt in 4 Teile, noch sozusagen die Quintessenz von The Tangent geboten: Jazziges bis klassisches Piano (wohl gespielt von Sam Baine, dem zweiten PO90-Mitglied im Line-Up) eröffnet, um dann sanft von der Percussion und vom Sax aufgenommen zu werden. Es folgen sehr gefühlvolle Vocals, bevor das Ganze mit der Gitarre an Fahrt aufnimmt und in einen flotten Mid-Tempo-Song mündet. Hier kommt dann klanglich wieder eine leichte Nähe zu den Flower Kings zustande, in wie weit auch Parallel Or 90 Degrees durchscheint, kann ich mangels eigener Erfahrungen mit dieser Band (siehe oben) nicht beurteilen. In jedem Fall ein würdiger Abschluss dieser grossartigen CD.
So, und wer bis hierher gelesen hat, dem dürfte klar sein: Kaufen!
Anspieltipp(s): Up-Hill From Here
Vergleichbar mit: Genesis, Yes, ELP, Flower Kings usw.