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Dann will ich mal versuchen, ob ich ein paar Fragezeichen tilgen kann ...Aprilfrost hat geschrieben:Als ich den Text eben noch mal las, fielen mir die zahlreichen Fragezeichen(??) auf. Fällt Euch was zu diesen Textstellen ein? Nur heraus damit.
Ich denke, Hermann Hesses "Siddhartha" erweist sich hier tatsächlich als Fundgrube für eine tiefergehende Interpretation des Songtextes ("Song" klingt irgendwie abwertend - "Close To The Edge" ist ein Epos!). In Bezug auf "I get up, I get down" stieß ich bei Hesse auf folgende Stelle im Kapitel "Am Flusse":
Ja, seltsam war sein Geschick! Es ging abwärts mit ihm, und nun stand er wieder leer und nackt und dumm in der Welt. Aber Kummer konnte er nicht empfinden, nein, er fühlte sogar großen Anreiz zum Lachen, zum Lachen über sich, zum Lachen über diese seltsame, törichte Welt.
"Abwärts geht es mit dir!" sagte er zu sich selber und lachte dazu, und wie er es sagte, fiel sein Blick auf den Fluss, und auch den Fluß sah er abwärts gehen, immer abwärts wandern, und dabei singen und fröhlich sein.
So viel zum "I get down" und zum "Down by the river" - Das "I get up" erschließt sich wenige Zeilen später:
Ist es nicht so, als sei ich langsam und auf großen Umwegen aus einem Mann ein Kind geworden, aus einem Denker ein Kindermensch?
Also zuerst der Aufstieg zum Mann, zum Denker und dann der Abstieg zum Kindermenschen - leer und nackt und dumm in der Welt. - I get up, I get down ...
"Close to the edge" - "Edge" ist die Kante, der Point of no return. Hier am Fluss (just by the river) entscheidet sich das künftige Schicksal von Siddhartha. Noch einmal Hesse:
Mit verzerrtem Gesicht starrte er ins Wasser, sah sein Gesicht gespiegelt und spie danach. In tiefer Müdigkeit löste er den Arm vom Baumstamme und drehte sich ein wenig, um sich senkrecht herabfallen zu lassen (!!!) , um endlich unterzugehen. Er sank, mit geschlossenen Augen, dem Tod entgegen. ... Und im Augenblick, da der Klang "Om" Siddharthas Ohr berührte, erwachte sein entschlummerter Geist plötzlich, und erkannte die Torheit seines Tuns. ...
Siddhartha wollte sich töten, weil er mit der Schande seines bisherigen Lebens ("the depths of your disgrace") nicht zurechtkam und hörte im letzten Moment eine Stimme ("A seasoned witch can call you"), die ihn dazu brachte, sein Leben neu zu überdenken und neu zu arrangieren ("rearrange your liver", wobei "liver" wohl auch im Zusammenhang mit "be a fast liver" = ein flottes Leben führen bzw. mit "loose liver" = liederlicher Mensch zu denken ist) hin zu einem Zustand, der seiner geistigen Würde gerecht wird ("the solid mental grace"), ein Leben, das alles andere als flott und liederlich ist. Zunächst muss er jedoch seinen Selbsthass überwinden ("I crucified my hate"). Hesse schreibt:
Wie hasste ich diese Welt der Reichen, der Schlemmer, der Spieler! Wie habe ich mich selbst gehasst, dass ich so lang in dieser schrecklichen Welt geblieben bin! ... Dies aber habe ich gut gemacht, dies gefällt mir, dies muss ich loben, dass es nun ein Ende hat mit jenem Hass gegen mich selber, mit jenem törichten und öden Leben!
Allerdings hat Siddhartha kurz zuvor seine Frau verlassen, die nun allein und schwanger zurückbleibt. Wie wird sie sich fühlen? ("You can clerly see the lady sadly looking") Vielleicht fühlt sie sich schuldig, dass er sie verlassen hat? ("Saying that she'd take the blame") Er "kreuzigt" seinen Hass, aber was bleibt ihr übrig, als ihre Gefühle nun ebenfalls zu "kreuzigen"? ("For the crucifixion of her own domain") Zu spät! ("too late") Zwar weint hier eine Frau, aber wieviele Millionen Frauen werden denn weltweit betrogen und wie viele potenzielle Siddharthas betrügen sich wohl selbst mit einem Lotterleben? ("How many millions do we deceive each day?")
Am Fluss ereignet sich später die Erleuchtung durch Einsicht in die Dinge wie sie sind ("the reasons we understood will be"). Bei Hesse liest sich das so:
Und wenn Siddhartha aufmerksam diesem Fluss, diesem tausendstimmigen Liede lauschte, wenn er nicht auf das Leid noch auf das Lachen hörte, wenn er seine Seele nicht an irgendeine Stimme band und mit seinem Ich in sie einging, sondern alle hörte, das Ganze, die Einheit vernahm, dann bestand das große Lied der tausend Stimmen aus einem einzigen Worte, das hieß Om: die Vollendung.
Mit dieser Einsicht - die Welt in einem Wort, oder "held the word within my hand" ist das Werk getan. Jetzt ist er ganz geworden. Hesse:
In dieser Stunde hörte Siddhartha auf, mit dem Schicksal zu kämpfen, hörte auf zu leiden.
"Now that it's all over and done,
Called to the seed, right to the sun.
Now that you find, now that you're whole."
Nun ist alles getan und es ist vorbei. Die Saat ist gesät, sie wächst zum Licht, zur Erleuchtung. Nun, da du es gefunden hast, nun bist du ganz, heil und vollkommen. Die Jahreszeiten ziehen weiterhin an dir vorüber und du steigst weiterhin auf und ab, aber - so lässt sich der Gedanke weiterspinnen - das tangiert dich nicht mehr, weil du erleuchtet bist. Das Leben wird abgelebt und ausgelebt bis zum Ende.
Close To The Edge - ein Meisterwerk!