Noch ein Versuch: Erläuterungen zur Übersetzung / Textinterpretation
A: Allgemeines
1. Man könnte bei diesem Thema vom Hundertsten ins Tausendste kommen. Ich versuche für die Interessierten einen Mittelweg. Bei Nachfragen kann ich ja ins Detail gehen.
[Edit nach Korrekturlesen der Einleitung: O je, das ufert aus ...]
2. Es gibt vielerlei Deutungen von CTTE. Anderson selbst steht dem offen gegenüber und meinte einmal sinngemäß, vielleicht hätten ja alle recht. Somit kann auch das folgende nur ein Debattenbeitrag sein. Prinzipiell müsste ich also alles im Konjunktiv schreiben. Ist mir aber zu blöd.
3. Der Text ist ein Gemeinschaftswerk von Howe und Anderson. Laut Howe liegt der Anfang in einem Song, den er angesichts seines damaligen Wohnortes nahe dem River Thames entwickelte. Anderson gibt an, von Hermann Hesses Siddhartha inspiriert worden zu sein.
4. Howe wird gelegentlich unterschätzt, in Interviews und Texten macht er jedoch einen sehr intelligenten, reflektierenden und vor allem strukturierten Eindruck. Er ist wohl das, was man einen "ethisch hochstehenden Menschen" nennt und drückt dies auch gelegentlich in seinen Songtexten aus.
Anderson pflegt einen ungenierten "Synkretismus" (= Vermischung / Verbindung von Weltanschauungen), ohne dabei irgendeine Richtung vollständig zu übernehmen.
Ich persönlich vermute, dass jene Zeilen von CTTE, die auf Anhieb und ohne große Probleme auch vom Normalbürger gedeutet werden können, aus der Feder von Howe stammen.
5. Als einige Beispiele für den Synkretismus von Anderson seien genannt:
"Prayer Song" von "Angels Embrace",
"Journey to Xtlan" von "Page of Life",
"Beside" (musste ja kommen ...) von "The Friends of Mr. Cairo",
die "Tales" als Gesamtwerk,
und eben auch CTTE,
(und natürlich noch viele, viele mehr).
Zentrale Themen sind dabei:
Das Auf und Ab des Lebens, des Universums und des ganzen Rests.
Die innere Zerrissenheit und Disharmonie im Menschen.
Suchen / Finden einer Verbindung zu einer "höheren" Dimension bzw. einem übergeordneten Prinzip, das ohne Berührungsängste von Anderson auch als "göttlich" bezeichnet werden kann.
Insgesamt folgt Anderson dabei dem Gedanken, dass sich in vielen Religionen und Weltanschauungen inhaltliche Splitter oder Hinweise auf eine wie auch immer geartete Gesamtlösung finden. Ebenso, dass einzelne weise Menschen besondere Kontakte, Visionen, Erkenntnisse hatten, die als Wegweiser dienen können.
Letztlich darf man aber als Summary feststellen, dass er, hm, gelegentlich etwas abhebt. Es sei ihm gegönnt. Und in Abwandlung eines seiner Zitate: Maybe he's right. I don't know.
6. Die "Inspiration durch Hesses Siddhartha" meint nicht, dass CTTE eine (noch gar werkgetreue) Interpretation oder Vertonung dieses Buches ist. Ebenso wenig sind die Tales dies mit Bezug auf die "Autobiography of a Yogi" von Paramahansa Yogananda (was bin ich manchmal froh, dass es Copy and Paste gibt ...). Zu letzterem gibt es hier im Forum ja schon den Link zu Alan Gullette.
Anderson hatte sich zur damaligen Zeit intensiv mit vielerlei Varianten der östlichen Religionen beschäftigt, er trug sich mit dem Gedanken, die Musik aufzugeben und auszuwandern, um sein Leben dort in Meditation u.ä. weiterzuführen. Siddharta lieferte ihm, nun ja eben eine "Inspiration", seine Ansichten und Erkenntnisse umzusetzen. Aber eben: Alle seine bisherigen ...
Zwei Beispiele für diese These:
Siddhartha erlebt am Buchende jenen Zustand, in dem jeder Dualismus aufgehoben ist, es eben kein Auf und Ab mehr gibt. Dies wird erreicht, indem jede Vorstellung des "Ich", der "Person" aufgegeben wird, man "löst sich gewissermaßen im Universum auf", wird Teil desselben oder wie auch immer. (*seufz* Ich merke schon, ich muss noch einen siebten Unterpunkt zum Thema Buddhismus schreiben ...).
Die Erkenntnis am Ende von CTTE, erkennbar an einer endlich wieder einmal friedlichen Tonart und Anderson-typisch schön mit Halleffekten unterlegt, erkennt die "cycles of life" (Called to witness cycles only of the past. And we reach all this with movements in between the said remark.), aber es gibt weiterhin eben diese "movements", das Lied endet wieder mit "I get up. I get down.". Soll heißen, das Auf und Ab macht ihm nichts mehr aus - aber es ist eben noch vorhanden.
Und noch grundsätzlicher und kniffliger: Es gibt einen generellen Unterschied zwischen Buddhismus und den abrahamitischen Religionen (= Religionen, die sich auf Abraham als Urvater berufen: Judentum, Christentum, Islam). Ziel des Buddhismus ist die Aufhebung jedes Dualismus, auch und gerade zwischen Mensch und einem höheren Prinzip (Gott o.ä.). Nichts ist von mir getrennt, ich bin von nichts mehr getrennt, alles ist eins. In den abrahamitischen Religionen dagegen schuf Gott den Menschen, gerade weil er ein "Gegenüber" wollte. Hier ist das höchste Ideal also nicht das eins werden mit Gott, sondern die Beziehung zweier nicht miteinander vermischter Individuen.
Anderson ist hier der buddhistischen Linie nie gefolgt.
[Anmerkung am Rande: Damit dürfte klar sein, dass "christliches Zen" ein aber so was von grundsätzlichem Widerspruch in sich ist. Auch wenn ein menschlich durchaus sehr sympathischer Willigis Jäger immer größere und verwickeltere Salti schlägt, um beides zu verbinden ...]
7. Buddhismus (aber nur ganz kurz und in Hinblick auf CTTE ... und stark vereinfacht noch dazu):
Es gibt nicht "den" Buddhismus als einheitliche Weltanschauung. Aus den ältesten Texten ergibt sich, dass der historische Buddha als Gegenpol zu der vorherrschenden Religion auf jeden transzendenten (= überweltlichen) Inhalt verzichtete. Gott, Ewigkeit, ... haben ihn nicht interessiert. Wichtig ist nur, was in unserem Geist geschieht bzw. was wir, unsere Sinne, unser Denken damit anstellen. Als klassisches Zitat: Buddhismus ist keine Religion, sondern eine Wissenschaft des Geistes.
Da der Buddhismus somit kein Problem (und scheinbar wenige Widersprüche) mit Religionen hatte, konnte er sich überall auf der Welt mit den jeweiligen Religionen verbinden. Es wurden Götter, Geister, Wiedergeburtsräder usw. integriert.
Siddharta entspricht also nicht eins zu eins dem klassischen Buddhismus. Ebenso wenig wie der damals in Europa (v.a. auch durch Schopenhauer) importierte Buddhismus. Ebenso wenig die eher im amerikanischen Raum vorherrschenden Varianten. Übrigens auch nicht die Schulen des japanischen Zen.
Um die teils gravierenden Unterschiede zu verdeutlichen, zwei Beispiele:
Der Westen kennt das Prinzip "Schuld und Sühne" (basierend auf der Grundannahme eines gerechten Lebens = "alles rächt sich auf Erden") sowie eine wie auch immer geartete Zeit nach dem Leben ("rächt / lohnt sich's nicht auf Erden, dann danach" ...). Dem entspricht das westliche Verständnis von Karma und Nirwana: Karma ist eine Art metaphysisches Bankkonto. Ist die Lebenssumme im Plus, gehts eine Stufe aufwärts, nach vielen positiven Lebensstufen landet man irgendwann im paradiesischen Nirwana. Ist dieses moralische Bankkonto aber in den roten Zahlen, kommt man im nächsten Leben als Nacktschnecke auf die Welt.
Im originären Buddhismus meint Karma lediglich ein alltägliches geistiges Ursache-Wirkungs-Prinzip: Heilsames Denken und Handeln tut meinem Geist gut, unheilsames lässt ihn leiden. Motto: Ärgere ich mich über einen anderen, schade ich mir primär selbst. Und Nirwana meint den Zustand, in dem alle Dualität aufgehoben ist. Dies kann (nicht bei allen, nicht oft, aber immerhin) in einer ganz normalen Meditation erreicht werden. Also nichts einmaliges oder endzeitliches, sondern einfach ein geistiger Zustand im Hier und Jetzt.
Fazit: Wir dürfen CTTE nicht vor dem Hintergrund des "Buddhismus" oder auf Basis von "Siddhartha" erklären, sondern müssen Anderson selbst als Interpretationshilfe nehmen.
Klärung eines Missverständnisses zum Thema "Meditation":
Meditation ist kein Trancezustand, Autogenes Training, Selbsthypnose o.ä. - sondern das genaue Gegenteil davon, nämlich höchste und klarste Konzentration. Normalerweise wird unser Geist dauernd beschäftigt, durch Sinnesreize von außen, aus dem Körper, durch unsere Gedanken(bilder) und Selbstgespräche. Meditation "trennt" mithilfe verschiedener Techniken den Geist von diesen Reizen, er wird als unbewegt und unberührt erkannt, kann so "sachlich und nüchtern" diese Reize erkennen, sie beschreiben und einfach akzeptieren (aber natürlich ohne dass dies wieder in Geistesarbeit ausartet). Irgendwann wirds dann auch (hoffentlich) ruhiger im Geist und dieser kann sich der Erkenntnis widmen, dass er eins ist mit allem.
Für diese Schmalspurbeschreibung würde ich von einem Professor höchstens eine Fünf und vom Zen-Meister nur ein sanftes Kopfschütteln ernten, aber ich hoffe, das Prinzip (bzw. der Unterschied zur gängigen Vorstellung) ist klar geworden.
8. Und als krönender Abschluss der Einleitung noch ein Zitat vom o.g. Gullette:
"The methodology I employ in analysis of Yes's lyrics is the only one I know of that results in any kind of understanding of the meaning expressed. The lyrics are often symbolic in the sense that words are by their nature symbolic: Anderson's words are highly literal and can best be understood with the use of a dictionary, establishing the meanings in terms of other words in an integral semantic construction. The close study of such a construction using this dictionary approach makes one more semantically (and syntactically) aware. This reflects a philosophical condition concerning the importance of words as world-creating descriptions. I enjoy no worlds more than those Anderson creates out of words and linguistic networks of interrelated meanings (words seen, through semantic awareness, to have meaning only in terms of other words - all in a vast self-contained system), images and colors, and highly complex music."
Wie gesagt: Widerspruch, Korrekturen, Ergänzungen, Nachfragen ... gerne. Das Antworten kann bloß etwas dauern, da dies alles als Hobby nur nebenher läuft.
Und irgendwann die nächsten Wochen fang ich mit Teil B an ...