Teil B: The Solid Time of Change
A seasoned witch could call you from the depths of your disgrace
And rearrange your liver to the solid mental grace,
And achieve it all with music that came quickly from afar
Then taste the fruit of man recorded losing all against the hour
1. Wort-Ebene
[Bei unklaren Begriffen sollen verschiedene Bedeutungen oder die semantische Grundrichtung aufgezeigt werden, ebenfalls werden feststehende Begriffe, Redewendungen, Termini technici = Fachbegriffe ausgewiesen.]
seasoned: Eigentlich abgelagert oder reif mit Bezug auf Nahrungsmittel; bei Menschen auch reif, erfahren, eine "gestandene Persönlichkeit"; mit Bezug auf die im Text häufigen "seasons" würde ich lebenserfahren nehmen.
witch: Hexe oder (was vom Kontext her kaum passt) Wünschelrute; da Hexe zu negativ klingt, nehme ich Zauberin.
disgrace: Schande, Schmach, Ungnade; verwendet v.a. im öffentlichen Zusammenhang (d.h. für andere sichtbar, in den Augen anderer).
liver: Leber, in Redewendungen auch ein "leberbezogenes" Leben i.S.v. Sucht usw. Kam mir als Nomen in diesem Zusammenhang bisher nur einmal unter (bei Oscar Wilde?).
solid: fest, beständig, gründlich, haltbar, massiv; alles i.S.v. stabil oder verlässlich.
grace: grace hat viele Bedeutungen, hier passt am ehesten Anmut, Liebreiz. Das Gegenstück zu "disgrace" - also öffentlich wahrnehmbare Würde, Ehre, usw. Die Übersetzung Gnade entfällt, da es hierzu jemanden bräuchte, der Gnade i.S.v. Strafverschonung gewährt - und diese(r) kommt im Text nicht vor (bzw. wie und warum sollte eine witch Gnade gewähren?).
recorded: Neben der technischen Bedeutung als aufgenommen ein Term. techn. in Justiz (aktenkundig machen) und Geschichtsschreibung (in einer Chronik aufgezeichnet).
against the hour: Eigentlich (ent)gegen, im Widerspruch / Widerstreit zu; gelegentlich aber auch als Bezeichnung einer Abhängigkeit. Hier passt beides: Die Früchte des Menschen verloren gegen (im Wettlauf mit) der Zeit oder auch in Abhängigkeit, also im Lauf der Zeit.
2. Vers-Ebene
[Die Deutung des ganzen Parts befindet sich ganz am Ende des jeweiligen Parts.]
Die lebenserfahrene witch ist ein weibliches Wesen mit Zauberkräften bzw. übernatürlichen Kräften. Grundsätzlich entspricht beides Andersons Mentalität. Aber könnte hier bildlich der Fährmann aus Siddhartha gemeint sein? Immerhin bilden Anfang (witch) und Ende (master) die Klammer dieses Parts. Auch betont das "herausrufen", dass der nach Erkenntnis Suchende nicht aus eigener Kraft vorankommt, sondern Hilfe braucht (wo er doch in der Tiefe ist). Und Siddhartha erhält vom Fährmann entscheidende Impulse. Anderson passt auch gerne Begriffe an oder tauscht sie aus, wenn dies besser zur Melodie passt - und ferryman klingt nun nicht so dolle (außer bei Chris de Burgh).
could call ist Konjunktiv (könnte) und bezieht sich auch auf die folgenden beiden, durch "and" verbundenen Zeilen-
disgrace und grace bilden einen Zweizeiler mit gemeinsamem Sinn (wen der Fachbegriff interessiert: Hendiadyoin). Deshalb wichtig, da wir so Aufschluss über die "liver" erhalten. Früher habe ich dies auch im klassischen Sinn von wegen Leber als Sitz der Gefühle, der Seele usw. gesehen - aber dies ist kein passender Gegensatz zu grace. Somit muss Leber negativ besetzt sein. Andere Deutungen reflektieren hier über ein Gleichnis zu Sucht, Anspielung auf Drogenmissbrauch (der Bandmitglieder ...) o.ä. Dies würde den äußerlich sichtbaren Aspekt der Schmach durchaus gut aufnehmen.
Dennoch geht es mir hier mehr um das Grundsätzliche und ich ziehe "Liderlichkeit" vor. Kein üblicher Ausdruck, wer findet einen besseren?
Der öffentliche Aspekt der beiden Begriffe bezieht sich allerdings nicht nur auf andere Menschen, sondern auch auf den Blick in den Spiegel: Was sehe ich hier? Haben wir die Würde oder Anmut, die eigentlich dem menschlichen Geist oder der menschlichen Bestimmung entspricht?
Die Zauberin arbeitet mit Musik, für Anderson ein klassisches Bild für Harmonie und höheres Verständnis. Beispiel: Im Lied "Beside"
grübelt er über ein ähnliches Problem, nennt dann einige Beobachtungen, die ihm zu einem harmonischen Verständnis verhelfen und zieht das Fazit: "Even this we could call music". Anderes Beispiel: Music is magic (90125 - Our Song).
Dass diese Erkenntnis wächst (aus der Ferne näher kommt, größer und deutlicher wird), ist nachvollziehbar - aber warum kommt sie schnell? Möglicherweise, weil sie nicht allmählich im Lauf des Lebens zunimmt, sondern weil uns in manchen Lebensmomenten (dummerweise oft mit Leidenssituationen verbunden) plötzlich ein Licht aufgeht.
Worauf bezieht sich "recorded", was ist aufgezeichnet? Die Früchte der Menschheit oder deren Verlust? Vom Satz her ist beides möglich, kann aber auch in eins gesehen werden.
Den Bezug zum "Apfel" (genauer: Frucht) der biblischen Schöpfungsgeschichte sehe ich trotz "recorded" nicht. Erstens stammt diese Frucht von Gott und wird von einer Schlange aufgeschwatzt (also keine fruit of man), zweitens vermittelt sie die Erkenntnis von Gut und Böse. Und die ging im Lauf der Zeit nicht gesamt ("all"!) verloren. Recorded lässt sich ohne weiteres auf die Geschichtsschreibung der Menschheit beziehen.
And assessing points to nowhere leading every single one,
A dewdrop can exalt us like the music of the sun
And take away the plain in which we move,
And choose the course you're
Running down at the edge, round by the corner
Not right away, not right away
Close to the edge, down by a river
Not right away, not right away
1. Wort-Ebene
assessing: Den Wert von etwas beurteilen oder festlegen.
points: Nicht i.S.d. Verbs von wegen auf etwas deuten oder aufmerksam machen, sondern Nomen. Hier passt nun m.E. im Kontext perfekt der Term.tech. (Eisenbahn) "Weiche" oder "Weichenstellung".
leading: Vom Kontext her schwierig; als Verb heranführen oder hinführen, münden, auch ausloten (wo führt es hin?); der Text hat jedoch eben kein "leading TO", daher würde ich das ausloten bzw. überprüfen bevorzugen.
exalt: Erhöhen, verherrlichen.
plain: Eigentlich Fläche, Term.tech. (Geographie) Ebene oder flache Landschaft. Mit umgekehrtem Bezug auf "I get up, I get down" würde ich Flachland vorschlagen; zumal wir im Deutschen hier oft einen negativen Beiklang haben (Flachland-Bewohner).
course: Viele Bedeutungen, letztlich i.S.v. Bahn, Kurs, Richtung (wo soll es hingehen?).
right away: Feststehender Begriff = sofort, schnellstmöglich, auf der Stelle.
close to the edge: Feststehender Begriff = ganz nah am Abgrund, im Deutschen i.S.v. am Rande der Katastrophe.
round by the corner: Feststehender Begriff wie im Deutschen = gleich um die Ecke, meint: ganz nahe.
2. Vers-Ebene:
Da in den folgenden Versen "us" und "we" auftaucht, würde ich diese Form auch für die erste Zeile verwenden. Frage: Wir sollen alle Weichenstellungen - und zwar jede einzelne - ins Nirgendwo ausloten und beurteilen (wieder ein Doppelbegriff)? Wissen wir es zuvor nicht und müssen uns also immer wieder eine blutige Nase holen? Oder wissen wir es eigentlich, aber müssen diese Wege gehen, weil man solche Erkenntnisse nicht er-lernen, sondern nur er-leben kann? Hier wäre nun ein überdeutlicher Bezug zu Siddhartha.
Sonne ist quer durch alle Mythen Spender von Licht und Wärme, damit also letztlich des Lebens. Music (vgl. oben) meint die Harmonie. Diese kombinierte Erkenntnis kann uns einerseits (innerlich) erhöhen (im Sinne von erhebend?), aber auch - man denke an die o.g. grace - verherrlichen. Dabei muss jedoch nicht immer das große Ganze im Blickfeld stehen, sondern jeder kleine Tautropfen spiegelt in sich das Licht der (Tau = aufgehenden!) Sonne.
Die plain im folgenden Vers deutet jedoch eher auf "erhöhen" hin. Eigentlich werden jedoch nicht wir angehoben, sondern das Flachland wird weggenommen. Möglicherweise ein Unterschied.
Prinzipiell wäre beim Subjekt für "choose" aufgrund der doppelten Verknüpfung mit "and" auch, dass jeder Tautropfen für uns den Weg auswählt. Halte ich aber für unwahrscheinlich.
Im Booklet sind hier verbunden "running down at the edge", eine interessante Kombination, denn dies könnte letztlich bedeuten, wir suchen uns (nur) den Weg aus, auf dem wir hinunter zum nahen Abgrund eilen. Allerdings heißt es "AT" anstelle "TO" - korrekt würden wir dann nur den Weg suchen, den wir am Abgrund entlang rennen.
Das doppelte warnende "Not right away" würde ich mit "Nicht sofort und nicht zu schnell" übertragen.
Crossed a line around the changes of the summer
Reaching [out] to call the colour of the sky,
Passed around a moment clothed in mornings faster than we see
Getting over all the time I had to worry
Leaving all the changes far from far behind
We relieve the tension only to find out the master's name.
1. Worte-Ebene
changes of the summer: Jahreszeitenwechsel; da sich der Sommer ändert (also da ist) meint es Sommerende / Herbstanfang.
reaching out: Feststehender Begriff = ein absolut ehrgeiziges Streben nach etwas.
call: Viele Bedeutungen im Zusammenhang mit rufen; hier würde ich "benennen, einen Namen geben" bevorzugen.
passed around: Meint nicht nur an etwas vorbeigehen / vorüberziehen, sondern beinhaltet oft auch eine gewisse Schnelligkeit, sozusagen an etwas vorbeiflutschen.
clothed in: (Ein-)gekleidet, gelegentlich auch verkleidet.
getting over: Vom Prinzip her über etwas hinwegkommen (Problem, Schwierigkeit, Schicksalsschlag, usw.); positiv (mit etwas fertig werden) oder negativ (z.B. eine Ungerechtigkeit verschmerzen).
changes: Veränderungen oder Entwicklungen
far from far: Verdoppelung, fernab der Ferne; poetisch für "aus weiter Ferne".
relieve: Dem Sinne nach eine Schwere abbauen oder loswerden, bei sich oder anderen; also abbauen, entlasten, erleichtern, unterstützen, ...
tension: Spannung; alles was mit Anspannung, Verspannung o.ä. zu tun hat.
master: Eine Kombination von Kompetenz und Überordnung; hier bietet sich Lehrmeister an. Das oft in Deutungen verwendete "Gott" passt m.E. hier nicht - vgl. unten.
name: Primär der Name, aber auch eine Benennung und Bezeichnung.
2. Vers-Ebene
Die Grenze zu überschreiten beinhaltet einen Zeitpunkt (vgl. oben music - quickly), zum anderen eben den Aspekt einer "Grenze" zwischen zwei Bereichen.
Ende des Sommers / Herbstanfang kann als Herbst des Lebens, aber auch als Übergang von guten zu schlechten Zeiten gesehen werden.
Sky meint im Gegensatz zum (jenseitigen) heaven den für unser Auge sichtbaren Himmel. Welche Assoziation verbinden wir farblich mit dem Himmel im Herbst? Der Name dieser Farbe ist gesucht bzw. (reaching out) sogar dringend oder ehrgeizig gesucht.
"Faster than we see" wäre vom regulären Satzbau auf "mornings" bezogen, könnte aber auch aufgrund der schon genannten Methodik von Anderson (und wieder als Doppelbegriff) auf den Schnelligkeitsaspekt von "passed around" bezogen sein. (In anderen, vor allem klassischen Sprachen ist die Umstellung von Satzteilen ein häufig genutztes Mittel). Also:
Wir fliegen gewissermaßen an einem Augenblick vorbei, der sich in (Plural = mehrere / viele) Morgen (= Tage) kleidet bzw. diese beinhaltet.
Oder wir passieren einen Augenblick, der jedoch in unsehbarer (besser deutsch: unsagbarer) Schnelligkeit viele Tage beinhaltet.
Beides sind so faszinierende Bilder, dass man sich kaum entscheiden möchte ...
Es folgen drei Zeilen, deren Bilder die gleichen Begriffspaare haben: Ein negativer Zustand und dessen Überwindung: times of worry - getting over; changes - leaving behind; tension - relieve. Dabei wären dann die changes als (für Menschen ja meist unangenehme) Veränderungen zu sehen.
Ziel dieser dreifachen Befreiung ist "to find out" nicht den Lehrmeister an sich, sondern dessen "name". Meint dies den Personennamen (plus Adresse ...) oder eine allgemeinere Bezeichnung = Wer oder was ist der Lehrmeister? Dann bestünde eine Parallele zu "call the colour of the sky". Sollte man im Auge behalten.
Down at the end, round by the corner
Close to the edge, just by the river
Seasons will pass you by
I get up. I get down
Now that it's all over and done
Now that you find now that you're whole.
1. Wort-Ebene
over and done: Feststehender Begriff = im Deutschen in etwa wie längst erledigt, vorbei und vergessen, Gras darüber gewachsen usw.
find: Nicht nur finden, sondern erweitert auch etwas beobachten, entdecken, feststellen.
whole: Beschreibt etwas vollständiges, eine Gesamtheit (nichts fehlt mehr), hier gefällt mir der Ausdruck "ganzheitlich".
2. Vers-Ebene
Die Aussage der vier Ortsbezeichnungen ist klar (der Bezug zu Siddhartha wohl auch).
Wer sich die Mühe einer Matrix macht (down, round, close, just versus edge, corner, river, end) wird vielleicht eine tiefere Symbolik finden ... ich seh nix:
5 x round / corner
4 x close / edge
3 x down / edge
3 x down / river
3 x down / end
2 x close / end
je 1 x down / corner, round / river, close / river, just / river
Wichtig ist das Futur der "seasons will pass". Diese Entwicklung dürfte den eher punktuellen Ereignissen bei der Ortsbezeichnung folgen. "I get up. I get down" wiederum bezieht sich auf die "seasons".
Es folgt wieder ein Zeitpunkt = "now", an dem all das oben genannte vorbei ist ("over and done"), mit der Erkenntnis / Feststellung, dass der Zustand nun ganzheitlich, also nicht mehr getrennt von irgendetwas oder im Menschen selbst (buddhistisch gern: "zersplittert") ist.
Eine mögliche Verbindung wäre (neben der Überwindung des Negativen der vorherigen Strophe zu "over and done") auch noch das "find" am jeweiligen Ende dieser und der vorherigen Strophe.
3. Part-Ebene:
[Hier würde ich empfehlen, eine Pause einzulegen, um die bisher bei Euch aufgetauchten Ideen, Gedanken, Bilder, ... nicht sofort durch meine sicherlich subjektive, vereinfachte, unzureichende ... aber evtl. auch falsche Gesamtdeutung des ersten Parts verschwinden zu lassen.]
Ansonsten: Weiter im Text ...
[Einzelne erweiterte Informationen für Wissbegierige habe ich in eckigen Klammern angefügt.]
Die Menschheit und jeder einzelne Mensch sind allein schon empirisch ein Elend. Wer dies anders sieht, möge mal eben "Traurig, aber wahr" von Georg Danzer anhören.
[Am Rande: Happy 60. Birthday an Wolfgang Ambros und seine liver ...].
Irgendetwas läuft schief, denn eigentlich müsste doch der vernunftbegabte Mensch sein Leben oder die Zustände auf dieser Welt in den Griff bekommen.
[Interessanter Unterschied:
Der Buddhismus sieht im Inneren jedes Menschen einen goldenen Kern, der nur an der Außenseite als Schutz oder Folge des Lebens von einer Schmutzschicht umhüllt ist. Lösung: Erkenne diesen goldenen Kern in dir und in den anderen Menschen.
Das Christentum geht dagegen von einem sündigen Zentrum aus, das äußerlich durch unser gutes Bemühen und Streben versteckt ist. Lösung: Erlösung von außen durch einen Gott, der als "Heiliger Geist" dann im Menscheninnersten wohnt. Begründung z.B.: Wir müssen unseren Kindern nicht das Lügen, Stehlen, ... beibringen, sondern diese Dinge bleiben zu lassen. Hat auch was für sich.
Die Philosophen sinnieren darüber, ob unsere innerste Essenz die Existenz prägt oder umgekehrt ...]
Auf normalem Wege scheint diese Änderung jedoch kaum möglich, wie oft wollten wir uns schon ändern und haben versagt. Manche guten Ansätze gingen nach kurzer Zeit wieder unter, also keine solid mental grace. Und warum sind die Deutschen so unzufrieden, wo doch in jedem Haushalt durchschnittlich gefühlte 3,7 Exemplare von "Sorge dich nicht, lebe!" stehen? Also braucht es wohl übernatürliche Kräfte - eine Zauberin. Mit Lebenserfahrung, da das Wesentliche nicht als Lehre vermittelt werden kann (Siddhartha!). Eine Zauberin, die nicht mit dem Holzhammer arbeitet (Du bist ein Trottel!), sondern mit Liebe, Magie, Harmonie (music).
Die von dieser Zauberin (oder später dem Lehrmeister) vermittelte - unserer Natur so fern liegende - Erkenntnis kommt nicht als lebenslanger Prozess, sonder als oftmals schneller oder plötzlicher Aha-Effekt.
Aber: Sie könnte (could) nur helfen, automatisch passiert nichts. Was sollten wir also tun? Es folgt eine Gebrauchsanweisung:
1. Sieh die Früchte der Menschheit an. Große Menschen, große Reiche, große Unternehmungen - alle sind sie untergegangen, verloren im Lauf der Zeit, nur noch notiert in Geschichtsbüchern, auf Gedenkstelen, in Autobiografien, ...
2. Wie sollte Dein Leben weitergehen? Prüfe alle Vorschläge, die Dir in den Sinn kommen, die andere Menschen, Philosophen, Theologen, Psychiater, ... für Dich bereit halten. Und erkenne: Am Ende Deiner Wege und Möglichkeiten steht das nowhere. Alle Weichenstellungen führen irgendwann an die letzte Tür, die Du öffnest und vor einer Wand aus Nichts stehst.
[So der originäre Buddhismus, spätere Ausweitungen sind dem menschlichen Bedürfnis nach einem höheren Sinn oder einer höheren Gerechtigkeit wieder entgegen gekommen. Auch das Christentum hat da eine kleine, aber interessante Variante. ]
3. Wechsle die Blickrichtung: Weg von den größten Dingen oder Erkenntnissen, nach denen Du strebst, von denen Du träumst, die Du begehrst, ... hin zu den wunderbaren Kleinigkeiten. Ein Weltreich ist nichts gegen den kleinsten Tautropfen, in dem sich die Herrlichkeit der gesamten Sonne widerspiegelt. Die Umarmung durch die geliebte Frau, das Lachen unserer Kinder sind mehr wert als jeder Millionengewinn. (Ach, könnten wir das doch jeden Tag so sehen ...).
4. Und diese Sicht ermöglicht es, unser tägliches "Flachland" zu verlassen, durch das wir unachtsam hindurchtrotten. Es ist ein Paradox: In unserem Kopf gehen permanent die größten Träume, Sehnsüchte, Ängste, Grübeleien um - und wir verpassen es daher permanent, die wirklich wunderbaren Dinge an uns und im ganzen Leben groß werden zu lassen.
[Nettes Bild: Man stelle sich vor, wir würden den ganzen Tag von einem Mitmenschen begleitet, der uns permanent alles das laut ins Ohr sagt, was an Gedanken und Gefühlen in uns herumschwirrt. Wir wären schnell gelangweilt von dem immer gleichen Gesülze, würden ihn spätestens nach einer Stunde für verrückt erklären - oder ihm gleich genervt eine aufs Maul hauen. Unserem Geist erlauben wir diesen Blödsinn aber täglich und allezeit.]
5. Wenn wir all dies erkennen, sehen wir unseren tatsächlichen Platz im Leben: Wir stehen ganz nahe an einem Abgrund. Siddhartha war auf seiner Suche nach Erkenntnis beide extreme Wege gegangen, Askese und Hedonismus. Und am Ende stand er unten am Fluss, angeekelt von sich und dem Leben ... und wollte sich schlichtweg ersäufen. Diese gefährlichen Wege müssen auch wir gehen, so oder anders. An diesem Punkt müssen auch wir ankommen. Doch je extremer die Wege und die Brutalität dieser Erkenntnis, desto größer die Gefahr - daher: Not right away!
Es folgt ein autobiografischer Bericht von Anderson, von dem er mehrfach berichtet hat - ein Wechsel in einen anderen wunderbaren (Erkenntnis-)Zustand, der sein weiteres Leben geprägt habe. Da ich seine damalige Situation nicht genauer kenne, würde ich weiterhin allgemein interpretieren:
In der o.g. extremen Situation kommt die neue Erkenntnis (bei Siddhartha das Hören des Om) schlagartig.
[Eine Erklärung dieses Om würde nun echt den Rahmen dieses Textes sprengen. Bitte bei Wiki nachlesen oder auch Siddhartha vornehmen.]
Ob mit Herbstanfang eine Art Midlife-Crisis gemeint ist (die ja im Leben von sehr früh bis sehr spät auftauchen kann - bei manchen sogar mehrmals ...), eine schöne (Sommer-)Zeit zu Ende geht oder aber einfach ein Gefühl auftaucht, dass nun der "Herbst des Lebens" beginnt - alle Deutungen sind möglich.
Und dann stehst Du plötzlich da, mit Deinem Alter, Deiner Krankheit, Deinem Schicksal, Deiner o.g. Erkenntnis (!) ... und weißt nicht mehr weiter. Du kannst Deine Lebenssituation nicht mehr einordnen, willst oder musst dem plötzlich grauen Himmel einen neuen Sinn geben.
Blitzschnell ziehen dann in einem Augenblick die Tage Deines Lebens an Dir vorüber. Gute und schöne Momente, aber auch schlimme Zeiten. Und dann spürst Du eine abgrundtiefe Scham. Nicht wegen Deiner Fehler, Sünden oder wie man dies auch immer bezeichnen mag. Sondern weil alle Bewertung auf den Kopf gestellt wird. Die vielen schönen Kleinigkeiten hast Du allzu oft übersehen, weil Du permanent Deine Energie darauf verschwendet hast, irgendwelchen Wünschen, Ungerechtigkeiten, Sorgen oder Ängsten hinterher zu grübeln. Du wolltest Dinge erreichen oder erwerben, die Du nicht hattest, aber scheinbar zum Glücklichsein benötigst. Und was Du hattest, wurde krampfhaft festgehalten, jeder Veränderungen hast Du mit Angst entgegen gesehen, denn sie hätte ja einen Verlust bedeuten können.
[Der Buddhismus lehrt dies als zentrale Botschaft: Leben ist Leiden. Und dieses Leiden entsteht aus Begehren. Wir begehren, was wir nicht haben. Und behüten ängstlich, was wir meinen, zu besitzen. Ein anderes, freies Leben ist damit nur möglich, wenn man dieses Begehren aufgibt.
Dies praktisch identische Botschaft findet sich in der sogenannten "Bergpredigt" Jesu. Dass seine meisten "Nachfolger" dies nicht verstanden oder beherzigt haben, ist eine andere Geschichte ...]
Und aus dieser neuen Perspektive heraus kann man die schlimmen Zeiten überwinden, die ganzen Veränderungen des Lebens hinter sich lassen, alle Anspannung aufgeben.
Warum nun aber diese o.g. "Gebrauchsanweisung", die uns (und Siddhartha) an diesen gefährlichen, aber notwendigen Punkt gebracht hat? Sie ist einfach notwendig, um den Lehrmeister zu erkennen, zu finden, zu bezeichnen, von dem wir ab jetzt lernen wollen. Dies mag vordergründig eine Zauberin (und damit schließt sich der Kreis dieses Parts) oder aber (wie bei Siddhartha) ein Fährmeister sein. Der letzte Lehrmeister aber, auf den alles verweist, ist der Fluss. Und eigentlich muss man Siddhartha und seine Erfahrungen mit dem Fluss gelesen haben, um den weiteren Liedtext zu verstehen. (Und ebenso die wunderschöne musikalische Umsetzung dieses Flusses mit den darin treibenden Zeichen des "Lebens" zu Beginn von Part 3).
So sitzen wir nun an diesem Fluss, haben eine neue Sicht (oder besser: bisher nur einen neuen Aussichtspunkt), sehen den Jahreszeiten des Lebens zu, wie sie an uns vorüberziehen. Alles im Leben Notwendige, das uns zu diesem Punkt geführt hat, haben wir hinter uns gebracht. Und wir sehen uns an (oder in uns hinein) und sind nicht mehr "zersplittert" in Gedanken und Gefühlen, nicht mehr getrennt in Leib und Geist ... aber auch nicht mehr getrennt von den anderen Menschen bzw. dem gesamten Rest des Lebens Bisher gab es mich und es gab die anderen. Jetzt sehen wir, dass alles gemeinsam den gleichen Fluss hinab treibt. Wir sind eins mit uns und der Welt, wir sind "ganzheitlich".
[Wieder eine wesentliche Botschaft des Buddhismus - nachzulesen in der einschlägigen Literatur, die inzwischen in vielen Buchhandlungen eine eigene Abteilung mit vielen Regalmetern belegt. ]