"Supertramp" ist jedem, der sich ein wenig mit der Musik der 70er und 80er auskennt, ein Begriff.
Die meisten denken da direkt an "It's Raining Again", den "Logical Song" und den "Dreamer", lustige Sommerhits, die man bei SWR1 und ähnlichen Sendern manchmal zu hören bekommt. Fast jeder, der seine Jugend in den frühen 70ern verbracht hatte, ist Besitzer der "Crime of the Century"-LP, eine wundervolle Artrockscheibe, anno 1974.
Aber die Platten, die für den Proggie wohl am spannendsten sind, kennen - damals wie heute - nur sehr wenige: das erste (1970) und zweite (1971) Album der Gruppe. Ein Grund ist wahrscheinlich die Coverauswahl: wer kauft schon in der Zeit des Progs eine LP mit einem bunten Kohlkopf oder eine mit einem tätowierten Busen?
Aber das Cover sagt nicht viel über die Musik aus, die ist nämlich genial! 8)
Supertramp
50% des Debuts sind kurze, folkige, aber sehr intelligente Stücke, während die anderen 50% spannende rockige Tracks sind, die 6 Minuten und länger dauern. Das alles ist sehr keyboarddominiert, überall schwillt die Hammondorgel (ein Spinettmodell, für eine B3 klingt das zu sanft) oder erklingt das E-Piano (statt dem Wurlitzer Epi erklingt hier das sanftere Fender Rhodes) oder schönes Flügelspiel - hier alles noch alleine von Rick Davies gespielt, der hier aber nur bei einem Stück im Hintergrund mitsingt. Nun aber zu der Musik:
Mit dem folkigen Surely geht das Debut-Album los, ein 30sekündiges Lied mit Hodgsons Falsettgesang, Klavier und Akustikgitarre. Ein schöner Albumauftakt, der den abrupten Anfang vom zweiten Stück, It's A Long Road etwas sanfter macht: dieses beginnt mit eine bluesigen Riff auf dem E-Piano, das von cleaner Gitarre und Hammondorgel begleitet wird. Nun setzen der Bass, ein jazzig gespieltes Schlagzeug und der wundervolle Gesang von Hodgson (eines der wenigen Stücke ohne Falsettgesang) ein. Auch wenn das recht locker und munter klingt, hört man hier schon die Melancholie heraus, die diese Scheibe prägt. Der Mittelteil basiert auf rasantem Walking Bass und einer unison von Gitarre und Hammond gespielten Melodie, bis das Gesangsthema wieder aufgegriffen wird. Zum Schluss darf Rick Davies ein bisschen auf der Mundharmonika zu leisem Chorgesang und krummem Rhythmus solieren, bis das Stück mitten im Takt aufhört. Ein wunderschönes, sanft rockendes Stück, das sich wegen seiner Vielseitkeit aber eindeutig von 0815-Rock/Pop abgrenzt, sondern sich eher in proggig-jazzrockigen Gefilden bewegt.
Aubade ist ein 1minütiges dissonantes Orgelsolo aus krummen Akkorden, das auch nicht auf Virtuosität, sondern auf die Kraft der sanft schwellenden Akkorde basiert und direkt in die Ballade I'm Not Like other Birds of Prey blendet. Diese beginnt mit aufgelösten Sus4-Akkorden auf der Gitarre, bis der gleitende Bass und Hammondorgel dazu kommt. Verhallter Gesang von Hodgson begibt sich dazu, der verträumt klagt und fleht und die anderen in einen dramatischen Teil mit Schlagzeugbegleitung und Chorgesang führt. Eine weitere Strophe kommt dazu, diesmal wieder ohne Batterie, mit rückwärts abgespielten Gitarren im Hintergrund. Der dramatischere Teil wird wiederholt und das Stück dann mit den Worten "And my name is love" beendet. Brillianter Folk Pop, verträumt und sanft. Bei "Words Unspoken" gilt das gleiche; zu Orgel singt Hodgson das Hauptthema das Liedes, eine jazzige Gitarre spielt dazu aufgelöste Akkorde. Nach Schlagzeug- und Basseinsatz erklingt der hoch gesungene Refrain mit Akustikgitarrenakkorden im Offbeat und südländisch angehauchten, gleitenden E-Gitarrentönen.
Aber jetzt muss es nochmal etwas rockiger zugehen, und das tut es auch. Maybe I'm a Beggar beginnt mit einer Flageoletmelodie, zu der die Orgel die zweite Stimme spielt, im Hintergrund springt und hüpft die Akustikgitarre. Diesmal erklingt eine andere Gesangsstimme, die von Leadgitarristen Richard Palmer, der später als Richard Palmer-James für King Crimson auf "Larks tongues in Aspic", "Starless & Bible Black" und "Red" die Texte schreiben sollte und auf dem Supertrampdebut mit Hodgson und Davies sowohl Musik als auch Texte verfasste, stammt. Leise plingt der Bass dazu. Im Echo zu Palmers Falsettgesang singt Hodgson eine ähnliche Melodie. Danach übernimmt Palmer wieder das Mikrofon, ein Schlagzeug trommelt dazu. Nach einer weiteren Hodgson-Strophe ertönt ein bluesig-feuriges, triolengeladenes Gitarrensolo zu jaulender Hammondorgel und slashendem Schlagzeug. Dann wieder Ruhe, wir beginnen noch einmal von vorne: Orgel und Palmers Gesang, dann wieder Hodgson am Mikro mit Bandbegleitung. Die nächste Strophe ist mehrstimmiger, tonloser Chorgesang, die Orgel röhrt weiter, während die Gitarre solistische Akzente setzen darf. So geht es nach 7 Minuten ins Fade out, bis Home Again startet. Im Untergrund erklingen schrammelige Akustikgitarren, dazu singt Hodgson ein wenig, dazu gleiten sanfte Akustikgitarrentöne... und wenn man sich gerade zurücklehnen mag, ist das Stück schon wieder zu Ende; trotz doppelter Länge sagt es deutlich weniger aus als "Surely" - ein Lückenfüller.
Nachdem die LP umgedreht wurde und man leise Schlagzeugtöne bemerkt hat, erschallen verzerrte Gitarrenklänge, dazu verzerrte Hammondorgel (Nothing to Show). Die Leadgitarre wird zur Rhythmgitarre, wozu Herr Hodgson und sogar Herr Davies (eine Oktave drunter) gehetzt singen. Nach einem barocken Gitarrenzwischenteil spielt das Schlagzeug einen schönen Shufflerhythmus, wozu wunderschön funkig auf Epiano und Hammondorgel improvisiert wird- dazu jault die E-Gitarre wieder auf, bis Davies und Hodgson wieder das Mikro zur Hand nehmen. Mit 4 Minuten deutlich zu kurz, aus dem Mittelteil hätte man mehr machen können. Dennoch sehr gut! Nach dem ganzen Gerocke braucht das Gehör wieder etwas Entspannung, das Flageolet flötet zu Beckenteppichen und Flügelakkorden eine nette Melodie (die der Bass auch spielt), und Hodgson singt dazu - im Untergrund gedämpfte Handtrommel, Rasselschläge, mit etwas Mühe erahnbar das Cello (gespielt von Hodgson) und dezente Hammonduntermalung. Dieses musikalische Dessert nennt sich Shadow Song und philosophiert textlich über Schatten. Besonders erhebend der mehrstimmige overdubbte Hodgson-Gesang.
Nach 4 Minuten ist wieder Stimmungswechsel. Den merkt man aber garnicht, vielleicht ahnt man ihn; auf jeden Fall beginnt der größte Moment der Supertramp-Geschichte, der fast viertelstündige Progtrack Try Again. Ganz leise hört man im Kopfhörer die Hammondorgel und wildes Flageolettgequietsche. Das wird immer lauter, bis man es gut hört. Eine Melodie kristalliert sich heraus, sanfte Hihatschläge im Hintergrund, wie eine steig tickende Uhr fiept das Hammondpercussion im Hintergrund. Ein verstörend ruhiger Gesang von Hodgson erklingt dazu, der Bass sagt einen Dynamikwechsel voraus, den der Refrain bildet. Im Hintergrund wimmert nun die E-Gitarre dazu, in einem kurzen rockigen Zwischenspiel nimmt sie die Leadstimme ein. Strophe 2 erklingt, der nächste Refrain auch, aber etwas lauter als vorher. Mehrmals overdubbtes Herunterstimmen der E-Gitarre erklingt, zu dezenten Beckenschlägen echoen sich Bass, E-Piano und Orgel gegenseitig an, bis Palmers klassisch angehauchtes E-Gitarrenspiel wieder überhand nimmt. Die Basstrommel klopft nun dazu, es wird spannend. Nun gibt es einen vollwertigen Rhythmus, der aber immernoch kantig und holprig ist. Was weiß ich, was in dem Gitarrensolo für klassische Einflüsse verwoben sind, ich höre auf jeden Fall die Bach-Toccata heraus, die Orgel spielt eine jazzige Akkordfolge. Es wird lauter und lauter, bis es in einem hohen Ton endet, dann auf einmal Rhythmuswechsel zu einem schnellen Blues, die Orgel wabert und brüllt, die Gitarre faucht und soliert virtuos, dann wird es wieder ruhig, das Thema vom Anfang wird reprisenartig wiederholt, nun singt Hodgson wieder. Mitten im Refrain verstummt die Band, im Hintergrund sammeln sich Störgeräusche von Bass und Orgel, woraus sich ein kleines poppiges 60s-Orgel-Stückchen entwickelt, das die Brücke für die 4 Herren ist, eine schnelle, treibende Version des Refrains zum Abschluss zu spielen.
Einige werden sich nun fragen, wer jetzt eigentlich die 4 sind. Rick Davies Keyboards/Mundharmonika, Hodgsons Gesang und Richard Palmers Gitarre (wo da die im Booklet angegebene Balalaika klampft, kann ich nicht sagen) habe ich ja jetzt schon genug lobt. Der Herr, der so schön holprig im Hintergrund klopft, heißt Robert Millar (nicht der Radfahrer!), der wegen eines Nervenzusammenbruchs aus der Band ausstieg, musikalisch später nichtmehr tätig war und auch abundzu Mundharmonika spielt (ich wüsste nicht wo). Roger Hodgson (der später Gitarre und Keyboard spielen sollte) spielt hier Bass (!), das Flageoletflötchen, Cello und Akustikgitarre im Hintergrund.
Zum Schluss schließt sich der Kreis mit einer Reprise von Surely, das hier (neben der am Anfang schon gespielten zweiten Strophe) noch eine erste Strophe vorher hat. Als kleine "Zugabe" bietet die Band eine rockige, bombastische Improvisation auf dem "Surely"-Thema dar, das am Ende mit wild dreschendem Schlagzeug aufhört.
Ich weiß nicht, warum dieses grandiose Album so unbekannt ist.... ja, das Cover (im Anhang... ja, das mit dem bunten Kohlkopf!)...
aber musikalisch steht das mit seiner Mischung aus "Art"-igem/proggigen Rock und schönen Folk Pop hat es doch genau den Zeitgeist getroffen - bzw. spätere Musik vorweggenommen. Aber von späteren Supertrampalben distanziert sich das schon sehr - hier hört man frischen Prog und Folk, nur Hodgsons Stimme und Davies Keyboards lassen erahnen, was noch kommen sollte (die anderen sind ja auch danach ausgestiegen! ;-MO).
Auf jeden Fall vergebe ich 14/15 Punkten für diese wunderschöne Scheibe und kann sie allen empfehlen, denen etwas sanfterer Prog mit Folkanleihen gefällt... . Bei der (angeblich?) digital remasterten CD aus 1987 gefällt mir besonders der tolle Schlagzeugsound.
Anspieltipps? Vergleichbar mit?
also:
PROG/ROCK-Sachen: It's A Long Road (5,5min.) /// Maybe I'm a Beggar (6,5min.) /// Try Again (12min.) /// Nothing to Show (4min.)
vglb. mit: frühe King Crimson, Pink Floyd (gitarre!), Yes
FOLK-Sachen: Home Again (1min.) /// Surely Pt.2 (3min.) /// Surely Pt.1 (0,5min.) /// Shadow Song (4min.) /// Aubade/&I'm not like other Birds of Prey (5min.) /// Words Unspoken (4min.)
vglb. mit: Moody Blues (weniger "schmalzig"), frühe King Crimson
Supertramp - s/t (1970)
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