Neben der traumhaften Location, den beeindruckenden Musikern und dem respekteinflößenden Cohen habe ich ein 3:20 langes Konzert (exkl. Pause!) gesehen, was unter meinen Top-3 aller bisher besuchten Konzerte rangiert.
Ich bin immer noch völlig fertig, es war grandios. Ich habe probiert, meine begeisterten Eindrücke in Worte zu fassen:
I didnt' came all the way to Berlin to fool you

Ist es nicht ein verhältnismäßig hoher Aufwand, unter der Woche nach Berlin zu fahren, wenn man am nächsten Tag wieder um 6 aufstehen muss, „nur“ um Leonard Cohen zu sehen? Das dachte ich einmal. Im Nachhinein wäre ich wohl ans andere Ende der Welt gereist.
An das Konzert von Leonard Cohen hatte ich keine hohen Erwartungen. Seine Lieder find ich gut, aber mehr auch nicht. Da ich schon einige gute Kritiken gelesen habe, wird es bestimmt ein solides Konzert geben. Das letzte Konzert, an das ich ohne hohe Erwartungen heranging, war das der Dave Matthews Band in Hamburg. Jenes und das Konzert in der Waldbühne sind letztendlich diejenigen, die mich am meisten beeindruckt haben.
Die Waldbühne ist mit Abstand die schönste Konzertstätte, die ich bisher gesehen habe. Wirklich mitten im Wald gelegen, in einer friedlichen Abgeschiedenheit erhebt sich eine Art Amphitheater, was eine beachtliche Kapazität von 22.000 Zuschauern aufweist und dabei eine Intimität versprüht, wie sie nur von kleineren Konzerthallen bekannt ist. Dass die Waldbühne ein traumhafter Rahmen für ein Konzert in einer der friedlichsten Großstädte der Welt ist, bemerkte auch Cohen persönlich, sichtlich gerührt.
Sehr pünktlich um 18:35 betraten zunächst die Instrumentalisten die Bühne, ehe dann der nächsten Monat 76 Jahre alt werdende Cohen auf die Bühne gelaufen kam. Ohne lange Ansage ging es auch gleich schon mit Dance me to the End of Love, dem klassischen Opener der laufenden Tour, los. Hier fiel mir bereits sehr positiv auf, dass insbesondere Cohen im Vergleich zu der mir bekannten Show in der Londoner O2-World, die auf 2008 auf DVD erschien, die Stücke leicht variiert, ohne sie zu entstellen. Dies beeindruckte mich insofern, da ich Cohen bisher nie wirklich als Sänger gesehen habe, aber hier zeigte er sich nahezu virtuos.
Als nächstes konnte ich auf meiner virtuellen Liste der Stücke, die ich gerne hören wollte, ein weiteres abhacken, nämlich The Future. Die sarkastisch-düstere Zukunftsvision Cohens wurde sehr aggressiv dargeboten und es zeigte sich hier schon, wie gut der Meister bei Stimme ist. Etwas Durchdringeres war mir bisher unbekannt, man konnte nur eingenommen sein. Bei diesem Stück gab es sogar zwei „akrobatische“ Einlagen. Cohen legte einen kleinen Solo-Tanz hin („white man dancing“) und die Webb-Sisters schlugen ein Rad, was anständig mit Applaus bedacht wurde und Cohen ein spontanes Lächeln abrang.
Zwischen den Songs gab es eher wenig Ansagen, was aber auch nicht nötig war. Cohen nahm jedes Mal seinen Hut ab und strahlte offenen Herzens und glücksseelig ins Publikum. In Worte gefasst, würde man wohl sagen, dass hier ein Mann steht, der mit seinem Leben glücklich, seiner Musik verpflichtet und seinem Publikum sehr dankbar ist. Aber ein Lächeln ist doch viel aussagekräftiger, oder?
Bei Ain’t no Cure for Love fiel mir besonders folgende von Cohen eindringlich gegen die Gesangslinie der Webb-Sisters gesungenen Zeilen auf:
All the rocket ships are
climbing through the sky
The holy books are open wide
The doctors working day and night
But they'll never ever find that cure for love
auf, die darlegt, wie machtlos unsere heutige modern Gesellschaft bei allem technischen, moralischen und medizinischen Fortschritt doch gegen die Liebe ist.
In Bird on the Wire zeigt Cohen die ganz Bandbreite seiner Stimme. Er kommt so tief, dass er die Eigenfrequenz der Holzbänke trifft…
Bei dem nächsten Stück konnte ich wieder einen Haken auf meiner Liste machen. Everybody knows ist ein sehr ironischer, fast rockiger Song, der die Nachwirkungen eines Krieges beschreibt. Einer meiner Lieblingssongs von Cohen.
Als nächstes steht In My Secret Life auf der Setlist, was mich aber nach wie vor nicht vom Hocker haut. An dieser Stelle vielleicht etwas zur Bestuhlung der Waldbühne. Etwas ungewöhnlich gab es freie Platzwahl für alle Bereiche, als da wären: Der bestuhlte Innenraum und drei steil ansteigende Ebenen mit durchgehenden Bänken. Also ein flexibles und lockeres Platzangebot, in dem jeder (aufgrund der Steilheit der Waldbühne) die Bühne optimal einsehen kann und auch, da es nicht überfüllt war, auf der Bank entspannt Platz gefunden hat.
Das folgende Stück stand nicht auf meiner „Liste“, was selbige eigentlich bedeutungslos werden last. Die Darbietung von Who by Fire zähle ich zu den drei beeindruckendsten musikalischen Momenten, die ich bisher erlebt habe. Eingeleitet von einem im Gegensatz zu früheren Konzerten verlängerten Gitarren-Intros des großartigen Javiers Mas, der sich vor keinem anderen namhafteren Gitarristen verstecken muss. Er alleine hätte wohl die Waldbühne schon gut unterhalten und die Leute begeistert nach Hause gehen lassen. Selbiges trifft auf fast jeden Musiker der Cohen-Band zu. Allesamt Meister ihres Faches.
Aber zurück zum Song. Nach dem einnehmenden Gitarrenintros setzt die Band mit Cohen ein. Der Text des Songs beeindruckt und rührt mich zutiefst. Cohen trägt ihn fast in Form eines Rezitativs vor und steht ausnahmsweise in fast stoischer Ruhe vor dem Mikrofon. Er selbst spielt dazu akustische Gitarre. Ich möchte auf den Text gar nicht weiter eingehen, da soll jeder selbst seine Assoziationen zu entwickeln. Nicht planbar und daher umso bedeutsamer war, dass genau während dieses Songs und nur während dieses Songs die langsam untergehende Sonne zwischen den Bäumen durchschien. Es bedurfte eigentlich gar nicht mehr der genialen Soli Neil Larsen am Keyboard und Roscoe Becks am Kontrabass, der auf faszinierende Art die Gesangslinie nachahmte und den Songs ausklingen lies. Ich war emotional und musikalisch sowas von „fertig“ und erfüllt, dass ich an dieser Stelle vollkommen zufrieden den Heimweg hätte antreten können.
Die nächsten paar Songs flogen nahezu an mir vorbei. Ich war einfach nicht mehr aufnahmefähig. Im Ohr blieb mir noch The Darkness. Ein ziemlich neuer Song, der in die Blues-Richtung geht und dadurch zum einen aufzeigt, welche Bandbreite Cohen aufweist und es zum anderen noch schwieriger macht, ihn einer Stilrichtung zuzuordnen.
Mit Chelsea Hotel No. 2, Born in Chains und Waiting for the Miracle wühlte Cohen tief in seinem Portfolio.
Auf Planet Erde meldete ich mich wieder bei dem Song Anthem. Nicht ganz überraschend klingt dieses Lied auch hymnenhaft. Die Zeile:
„There a crack in everything, that’s how the light gets in“
spricht mir aus der Seele und hat sich in meinen Gehörgang eingebrannt.
Nach diesen fast eineinhalb Stunden verabschiedet Cohen sich und die Band zur Pause, macht Vorfreude auf den zweiten Teil und hüpft(!) von der Bühne. Moment, „zweiter Teil“? Wird es nochmal so lang? Länger!
Die steilen Stufen der Waldbühne hoch-und runtergeklettert und nach einigem Suchen den Platz wiedergefunden, steht Cohen ausnahmsweise an einem Keyboard. Alleine dieses Szenario reicht, um Tower of Song identifizieren zu können. Dieser Lied ist selbstironisch, biographisch und durch ein eher minimalistisches Keyboard-„Solo“ Cohens bereichert, für dessen Applaus sich Cohen mit den Worten: „You’re so kind“ bedankt.
Mit Suzanne packt Cohen einen seiner größten Hits aus und zeigte, dass er wirklich gut Gitarre spielen kann.
Sisters of Mercy ist ein weitere Klassiker, der mich aber nicht umhaut. Ebenso verhält es sich mit Gypsy’s Wife, wäre da nicht ein ausgedehntes Solo des überragenden Dino Saldo, der diverse Blasinstrumente und insbesondere Saxophon spielt.
Feels so good blieb mir nicht so im Ohr wie The Partisan, welches teilweise auf Französisch gesungen ist und welches die Flucht einer Familie vor (deutschen) Soldaten beschreibt.
Boogie Street setzte Cohens langjährige Co-Autorin und Sängerin Sharon Robinson in Szene, die den Lead-Gesang für dieses bluesige Stück übernahm. Bemerkenswert war, wie sich Cohen trotz seiner markanten Stimme im Hintergrund hielt und den Background-Gesang zusammen mit den Webb-Sisters übernahm. Überhaupt klang immer großer Respekt in der Interaktion Cohens und seiner Band mit. Er stellte sie zweimal komplett vor und erwähnte auch während der Songs öfters ihre Namen.
Großen Jubel gab es für das wahrscheinlich meistgecoverte Cohen-Stück Hallelujah. Natürlich mit Kniefall sang Cohen sein Hallelujah. Besser geht es nicht.
Das nächste Stück war wieder was für meine Liste. I’m your Man ist meiner Meinung nach der coolste Cohen-Song und auch ein Publikumslieblings. Fast bei keinem Stück gab es soviel Publikumsapplaus. Man begeht wohl keinen Fehler, wenn man „I’m your man“ auch auf Cohens Verhältnis zum Publikum bezieht. Er bedankt sich später bei seinen Fans dafür, dass sie gekommen sind, ihm und seiner Band zuhören und vor allem dafür, dass sie seine Songs am Leben halten.
So langsam fragte ich mich, was alles noch kommen kann/soll. Cohen erweckte den Eindruck überhaupt nicht mehr von der Bühne gehen zu wollen. Das Publikum hätte ihn sowieso nicht gelassen.
Weiter ging’s mit Take This this Waltz. Auch wenn der Walzer-Takt musikalisch ganz witzig ist, gefällt mir dieses Lied nicht so sehr. Cohen nutzte es zu einer weiteren sehr persönlichen Band-Vorstellung, in der er die Unverzichtbarkeit eines jeden Musikers unterstreicht. Mit Worten des Dankes für den erinnerungswürdigen Abend an sein Publikum hüpft Cohen ein weiteres Mal von der Bühne.
Mit So long Marianne graste Cohen einen weiteren seiner Hits ab, die mir persönlich nicht so viel bedeuten, aber natürlich das Publikum erfreuten.
Darauf folgte jedoch gleich ein weiterer Kracher: First we Take Manhattan in der Berliner Waldbühne. Im Refrain sang das Publikum „then we take Berlin“ so laut mit, wie es die Band wohl nicht kannte. Zumindestens deutet der einzige „Patzer“ der Background-Sängerinnen darauf hin. Von der Publikumsreaktion fasziniert verpassten sie ihren Einsatz und ließen drei Zeilen aus, ehe sie wieder professionell einstiegen. Cohen bedachte dies abseits stehend mit einem nur allzu weisen Schmunzeln.
Nun müsste es aber doch vorbei sein, oder? Zumindestens verlässt Cohen die Bühne. Dieses Mal tänzelnd.
Für Famous Blue Raincoat und If it will be your Will, was von Cohen rezitiert und anschließend engelsgleich von den Webb-Sisters gesungen wurde, kam die Band jedoch nochmal zurück. Closing Time, eines der stimmungsvollsten und anrüchigsten Lieder Cohens, beschloss diesen zweiten Zugaben-Set.
Es dauerte aber nicht lange, bis die Band erneut die Bühne betrat und I tried to leave you zum Besten gab. Abzüglich der Pause spielte die Band damit schon weit über 3 (drei!) Stunden. Einem Plakat aus dem Publikum, was schon ein paar Mal von den Kameras eingefangen wurde, folgend, setzte die Band ein letztes Mal einen drauf. Mit mittlerweile schon leicht kratziger Stimme boten Leonard Cohen, einer der größten Musiker, Dichter und Poeten unserer Zeit mit seiner unfassbaren Band das selten gespielte Lover, Lover, Lover.
Mit dem Gefühl, etwas ganz Besonderes und vor allem Bereicherndes erlebt zu haben, verlassen wir die Berliner Waldbühne. Dem Ort eines Konzertes, dass Maßstäbe gesprengt hat.

Die fettgedruckten Songtitel stellen die Setlist dar, aber hier nochmal zur Übersicht:
1.Dance Me to the End of Love
2.The Future
3.Ain't No Cure for Love
4.Bird on the Wire
5.Everybody Knows
6.In My Secret Life
7.Who By Fire
8.The Darkness
9.Chelsea Hotel No. 2
10.Born In Chains
11.Waiting for the Miracle
12.Anthem
13.Tower Of Song
14.Suzanne
15.Sisters of Mercy
16.The Gypsy's Wife
17.Feels So Good
18.The Partisan
19.Boogie Street feat. Sharon Robinson
20.Hallelujah
21.I'm Your Man
22.Take This Waltz (Band introduction)
23.So Long Marianne
24.First We Take Manhattan
25.Famous Blue Raincoat
26.If It Be Your Will
27.Closing Time
28.I Tried to Leave You
29.Lover Lover Lover (auf Publikumswunsch!)