
Von April 2011 bis September 2013 habe ich 6 Konzerte von Roger Waters "The Wall"-Tour in vier verschiedenen Städten, fünf verschiedenen Arenen und drei Ländern besucht. Natürlich hat sich die Show in der Zeit nur wenig verändert; "The ballad of Charles de Menezes" kam hinzu, in Mannheim noch als Instrumental, in Paris 2011 erstmals mit Lyrics. Die Filme, die auf die Mauer projiziert werden, wurden verändert, das Schwein wird am Ende der Stadionshows zerstört. Dennoch war jedes Konzert auf seine Weise einzigartig. Die erste Show war natürlich überwältigend und ich stand ganz vorne. Vor der zweiten habe ich Bandmitglied Mark Lennon vor dem Gelredome getroffen. In Mannheim hatte ich die ideale Sitzposition und es war die kleinste Halle. Paris I bleibt wegen des fantastischen Publikums in Erinnerung und weil ich davon überzeugt war, meine letzte Show zu sehen. In Düsseldorf hatte ich meine Familie mit dabei und es war der 70. Geburtstag von Waters. Gleichzeitig war gerade Düsseldorf auch sehr anstrengend wegen einer unangenehmen Anfahrt; die künstlich hochgepushte Antisemitismusdiskussion war lächerlich und hat mich deutlich mehr geärgert als nötig. Waters hat m. E. adäquat reagiert, nämlich gar nicht.
Am Ende darf Kunst auch provozieren, siehe Manet, siehe Max Ernst, siehe Salman Rushdie oder Ai Weiwei, sofern sie dabei auch zum Nachdenken anregt. Rushdie und Ai sind dabei auch Beispiele dafür, dass der Künstler das Risiko trägt, nicht die Politiker, Vertreter religiöser Organisationen oder gar die Journalisten, die mehr oder weniger schlecht informiert, ihre Meinungen abgeben, weil sie wissen, dass im Informationszeitalter morgen schon niemand mehr interessiert, was gestern getwittert wurde. So ist es nur wichtig, politisch immer korrekt zitiert zu werden. Mir haben die Unbequemen schon immer mehr zugesagt als ein Lilalaunebär und Clown, zu dem sich z.B. ein einst toller Künstler wie Phil Collins gemacht hat. In den letzten Tagen habe ich nocheinmal die Dokumentation "Behind The Wall" aus dem Jahr 2000 auf DVD angesehen. Waters sagt dort: I think people understood that it was satirical. I bloody well hope they did. I mean, otherwise, obviously, it would be awful if it wasn't satire. Übrigens - und das zum Abschluß dieses Themas - trägt das Flying Pig wirklich auch Kreuz und Halbmond. Das wurde von keinem Zeitungskommentator erwähnt, im Genesisforum, wo ich die Diskussion ebenfalls teilweise mitverfolgt habe, sogar angezweifelt (weil es wohl nicht in das vorgefasste Weltbild passt).
Und nun ... the last few bricks, wie Brain Damage UK titelt. Das 219. Konzert der Tour, wahrscheinlich der Abschluss der aktiven Tourkarriere von Waters überhaupt. Es ist ironisch, daß das letzte Konzert in einem Stadion stattfand, das deutlich größer ist als das Olympiastadion in Montreal, wo vor 36 Jahren die Idee für The Wall entstand und Waters den Vorsatz fasste, nie mehr in einem Stadion aufzutreten
Schwierig, ein Konzert unvoreingenommem anzusehen, daß man schon fünf Mal gesehen hat, aber ich staune immer noch, immer wieder über die Detailversessenheit: Das beginnt schon vor dem Konzert mit der Preshow Musik. Sieben Songs, die alle thematisch auf die Themen von "The Wall" verweisen. Es folgt (nur akustisch) eine Szene aus dem Film Spartacus (1960, Stanley Kubrick). Auf dem dramatischen Höhepunkt des Films werden die Sklaven aufgefordert, ihren Anführer Spartacus zu verraten, um ihre eigenes Leben zu retten. Es wird vermutet, daß es sich hier um eine Anspielung auf die McCarthy-Ära handelt, in der das Denunziantentum gefordert wurde. In der Pause werden Fotos von Opfern von Kriegen und Terror auf die Mauer projeziert. Dazu wird Trauermusik aus der gesamten Welt gespielt. Im zweiten Teil erscheinen u.a. Zitate von Kafka (Der Process) und Orwell (1984) auf der Mauer während "Run like Hell".
Es war zum Abschluss das größte Stadion, für mich auch das einzige Open Air Konzert der Tour. Wie schon mehrfach erwähnt - eigentlich wurde "The Wall" als Hallentour konzipiert, aber selbst in diesem riesigen Stadion vor fast 80.000 Zuschauern funktioniert die Show fantastisch. Es ist überwältigend, wenn bei "In The Flesh?" die Mauer mit einem Schlag beleuchtet wird, die Scheinwerfer den Pariser Nachthimmel absuchen und der quadrophonische Sound die Illusion vermittelt, daß Jagdflugzeuge im Tiefflug umittelbar über die Menge hinwegziehen. Waters hat am Ende ein paar Tränen weggewischt, als er sich verabschiedet hat. Es war definitiv das letzte Konzert von "The Wall", wahrscheinlich das letzte große Konzert von Waters überhaupt, wie er kürzlich bei der BBC angedeutet hat und es war ein perfektes Ende vor einem unglaublich emotionalen Publikum.
Ich bin dankbar für die Konzerte, glücklich, daß ich es noch geschafft habe, meine Kinder zu einem Originalmitglied meiner Lieblingsband mitzuschleppen, aber auch ich verdrücke eine Träne des Abschieds. Man kann Roger Waters nämlich viel vorwerfen, aber er hat immer versucht, seinem Publikum das beste zu geben. Dafür ein Dankeschön.
