Heaven and Earth: Inspiration und YES-Gefühl vor Virtuosität
Als YES-Fan seit 1968 habe ich schon so viele Höhen und Tiefen erlebt, dass mich nicht mehr jeder Kommentar aus den Schuhen hebt. Trotzdem war ich einigermassen schockiert, als ich hier und auf den babyblauen Seiten den mehrheitlichen Totalverriss des neuen Werks gelesen habe. Ich getraute mich kaum, die Stücke anzuspielen und habe sie deshalb in meinem I-Pod unter anderen Neuheiten "versteckt" und so peu à peu kennengelernt. Im Gegensatz zu den erstgenannten Kritikern kann mir dieses "Spätwerk" aber durchaus gefallen. Auf meinen frühmorgendlichen Velofahrten entlang des Greifensees fügten sich die verspielten, leichtfüssigen Melodien nahtlos ins fantastische Form- und Farbenspiel der zum Teil vom Bodennebel durchwobenen blühenden Landschaft ein. Mich überkommt dabei ein tief greifendes Gefühl von Harmonie und Zufriedenheit, eben jenes YES-Feeling, welches andere scheinbar bei "Heaven and Earth" vermissen.
Ich für meinen Teil war nicht nur angenehm überrascht über die vielfältigen Songs, sondern stellte bei mehrmaligem Hören fest, dass sie mir immer mehr ans Herz wachsen. So, wie ich das bei YES immer wieder erlebt habe.
Die Songs sind vielfältig durchstrukturiert, haben eingängige und trotzdem abwechslungsreiche Gesangsabläufe, welche häufig durch überzeugenden Multigesang bereichert werden. Zudem bieten sie immer wieder Raum, zum Innehalten und aufs Kommende vorzubereiten.
Häufig bemängelt wurde ja der wenig virtuose Einsatz der Instrumente, welche einige sogar so weit gebracht hat zu behaupten, die alten Herren würden's nicht mehr so bringen.
Müssen denn YES diesbezüglich irgendjemandem noch irgendetwas beweisen?
Ihre Virtuosität ist für mich, trotz ihres Alters, nach wie vor frappant, tritt aber in diesem Album für ebenso wichtige Elemente wie Inspiration und Musikalität etwas in den Hintergrund.
Der "neue" Jon hat mit seinem kompositorischen Beitrag an die Songs den YES-Nerv wiederbelebt. Jedes Stück hat seinen eigenen Charakter, seine Rhythmen, seine Originalität. Geoff Downes steuert einfühlsame, gut getimte Keyboardeinsätze und Kurzsoli bei. Die Bass- und Guitarrenläufe von Steve und Chris sind Ton für Ton den Stücken "auf den Leib" geschrieben und bestechen durch Einfachheit und trotzdem musikalische Vielfalt. Die Rhythmussektion kommt aus einem Guss daher und beweist, dass Alan White das YES-Feeling durchaus mittragen kann.
Wie schon andere hier möchte ich das letzte Stück "Subway Walls" noch etwas hervorheben, da einem hier von den "schrägen" Harmonien und etwas komplizierteren Rhythmen etwas geboten wird. Aber auch hier steht das Gesamtbild mit klassischem Intro, mehrstimmigem Gesangsteil, rhythmisch interessantem Zwischenteil und von schönen Solis begleitetem Schlussteil im Vordergrund.
Dieses letzte Stück ist für mich wie ein Spiegelbild des gesamten Albums:
Federleichte, lebensbejahende, abwechslungsreiche, melodiös und rhythmisch inspirierte YES-Songs, die zum Träumen anregen und einem alten Knacker wie mir das Leben versüssen.
Auf die Gefahr hin, mich hier total unbeliebt zu machen, schreibe ich hier ein klares "Ja" zur neuen YES-Scheibe. Ich hoffe, dass ich sie einmal live erleben darf, von mir aus auch in ihrer Gesamtheit zusammen mit "Fly from here". Mein Aufruf geht an alle YES-Fans, auch diejenigen, welche mit den neuen Produktionen nicht so viel anfangen können: Gebt YES eine Chance. Ihr habt sie sicher alle schon live erlebt und wisst, dass viele Stücke dann erst recht zum Leben erweckt werden. Vielleicht bin ich schon etwas senil, aber eines weiss ich ganz bestimmt:
Mir gefällt "Heaven and Earth" ausgezeichnet, auch wenn, oder gerade weil ich sie nie mit "CTE" oder "Relayer" vergleichen würde
YES-Fan-mässige Grüsse aus der Schweiz
Tommy