Was ich oben aufgeführt habe, hat eigentlich weniger mit Genesis-Fan, Prog-Fan oder Was-auch-immer-Fan zu tun. Ich stütze mich dabei auf diverse Quellen: größtenteils Interviews der einzelnen Mitglieder entweder auf Live-DVDs, Doku-DVDs, SACDs oder Biographien wie "Chapter & Verse". Dort sind viele Eindrücke, Einblicke und Infos darüber festgehalten, wie Genesis funktionier(t)en. Man kann jetzt natürlich sagen, dass das alles Quark ist, was Genesis da erzählen, aber ich glaube, dass Genesis lange nicht wussten, wie sie selbst funktionieren.
Das Trio Banks/Collins/Rutherford ist, wie SOONY es ja schon angedeutet hat, zweifelsohne ein Kreativwerkstatt für Pop und Rocksongs gewesen - "Songsschmiede" sagte Genesis-Fotograf und -Biograf Armando Gallo einmal. Das gleiche Trio ist aber auch für so etwas wie den Instrumentalteile von "Cinema Show", "Second Home By The Sea", "Fading Lights" oder "Apocalypse in 9/8" verantwortlich. Nicht zuletzt wurden z.B. "Cinema Show" und "Fading Lights" 1973/74, bzw. 1992 auch nur von den dreien allein auf der Bühne dargeboten.
Es ist jedenfalls unsinnig, den musikalischen Wandel bei Genesis einzig und allein nur Phil Collins in die Schuhe zu schieben. Klar, Sachen wie "Anything She Does", "In Too Deep", "Hold On My Heart" oder "Illegal Alien" kann ich inzwischen auch nicht mehr hören. Aber diese Songs sind eben nicht oder kaum auf Phil's Mist gewachsen. Das Paradebeispiel dafür sind doch auch die Songs "Congo", "Shipwrecked", "Not About Us" oder "If That's What You Need" auf dem Album "Calling All Stations", allesamt auch von balladesker Pop-Schlichtheit, aber nachweislich nicht von Collins (mit)komponiert.
Ich gehe sogar so weit und behaupte, dass der Wandel zu eingängigerer Musik auch mit allen fünf Mitgliedern so oder so gekommen wäre. Denn auch Steve Hackett war ab 1978 teilweise und 1981 wie 1986 sehr poppig und eingängig unterwegs. Erste Anzeichen waren bereits Songs wie "How Can I", "Hoping Love Will Last", "Every Day", "Time To Get Out", "The Show" oder später "Cell 151". Die meisten Sachen auf "Cured" waren hörbar vom US-Westcoast-Popsound à la Fleetwood Mac, Doobie Brothers oder Steely Dan beeinflusst. Und nicht zuletzt gab es in Zusammenarbeit mit Steve Howe unter dem GTR-Logo oder auf "Feedback '86" lupenreinen AOR.
Wir wollen auch nicht vergessen, dass auch die Solo-Arbeiten von Tony, Mike und Phil allesamt nun wirklich nicht progmäßig (bis auf ein paar Ausnahmen wie "Island In The Darkness" oder "Out In The Daylight") waren. Selbst zu Peter Gabriel (der übrigens das allererste Genesis-Mitglied war, der sich sowohl musikalisch als auch textlich vom Prog verabschiedete) kamen Pop und Soul im Laufe der 80er ("Sledgehammer", "Big Time", "Steam"). Und auch Peter's Alben wie "MELT", "SECURITY", "OVO" oder "UP" haben mit "Trespass", "Nursery Cryme", "Foxtrot" oder "Selling England" doch nur noch den Sänger gemeinsam, oder?
Auch der musikalische Zeitgeist und die Spuren, die der Punk und der New Wave Ende der 70er/Anfang der 80er hinterlassen hatten, spielte eine große Rolle bei den Stilwechseln in und um Genesis, so dass man mit den zigsten Neuauflagen von "Selling England...", "Foxtrot" und "Wind & Wuthering" ab Ende der 70er musikalisch nicht mehr ernst genommen, ja sogar zur Lachnummer und Karikatur verkommen wäre. Zudem war es ja nun nicht so, dass der Wechsel abrupt kam, so dass auf "Wind & Wuthering" ja nicht gleich "Invisible Touch" folgte, er kam eher organisch-schleichend und über einen Zeitraum von vier bis fünf Jahren und ebenso vielen Alben.
Gutes Beispiel dafür, dass Genesis in den 80ern zur ihrer eigenen Karikatur verkommen wären, hätten sie weitere Alben im Stil von "Foxtrot" oder "Selling" gemacht, sind doch auch Marillion, die bei ihrem ersten Erscheinen von der Presse ausschließlich verlacht und verspottet wurden ("Genesis für arme", "Hallo? Wir haben 1983!!!"). Oder auch Yes, die ja auf den "Keys To Ascension"-Alben wieder kramphaft versucht haben, wieder wie auf "Fragile" oder CTTE zu klingen - das ging (künstlerisch), bei Kritikern, wie auch bei vielen Fans, ziemlich in die Hose.
Genesis mussten als reagieren und sich weiterentwickeln und ich halte das für durchaus legitim und empfinde dies auch nicht als Verrat an irgendwelchen (sowieso nicht vorhandenen) Progidealen.
Zudem sollte man auch bedenken, dass Genesis nach der "Lamb"-Tour finanziell ziemlich in den Miesen waren, keine Ahnung, wann sie wieder schwarzen Zahlen waren, aber ich befürchte, es war nicht vor 1977.
Diese Entwicklung wird man auch nicht nur bei Genesis feststellen. Die hat so ziemlich jede Band in der Zeit Ende 70er, Anfang 80er mitgemacht (ja, auch Yes!!!). Der Zeitgeist hat sich einfach geändert. So war es eben.
Ich glaube, das Missverständnis besteht im Übrigen auch darin, Genesis als Progressive-Rock-Band zu sehen, und das zu einem Standard zu erheben, von dem sie sich immer weiter weg entwickelt hätten. Aus meiner Sicht (und übrigens auch aus der Sicht von u.a. Tony Banks und Peter Gabriel) waren Genesis nie ProgRock - jedenfalls nicht im Emerson, Lake & Palmer/Jethro Tull/Yes-Sinne. Ihre Musik war immer anspruchsvoll - egal ob sie pastorale Stücke mit 12saitiger Gitarre, Konzeptalben, Stadionrock oder 10-Minuten-Rocksuiten aufgenommen haben. Eine Musik, die ganz für sich allein steht, anspruchsvoller Rock, aber es ist nicht dieser theatralisch-pathetischer ProgRock wie man es heutzutage so oft in der Neo-Prog-Szene bei Bands wie IQ, Arena, Transatlantic, etc. findet.
anixek hat geschrieben:von Prog kaum *ne Spur. Nach Peter*s Ausstieg hat die Band schon einen gewaltigen Knick gemacht
Hm, also wie man "Selling England" mögen kann und gleichzeitig "A Trick Of The Tail" und "Wind & Wuthering" nicht, wird mir ein Rätsel bleiben. Zumindest wenn man den bevorzugten Sänger einmal ausblendet. Stilistisch gab es keinen harten Schnitt direkt beim Frontman-Wechsel. Wer also Genesis stilistisch auf "Selling England" mochte, der müsste eigentlich auch Genesis auf "A Trick Of The Tail" und "Wind And Wuthering" mögen, da Genesis auf allen drei Alben überwiegend den gleichen Stil verfolgten.
Genesis haben für meinen Geschmack sowohl die Prog- als auch die Pop-Schiene gut bedient. Es muss nicht immer alles automatisch gut sein, weil es höchstanpruchsvoll ist, über 10 Minuten lang, ausgewalzt, schräg, fremdartig klingt oder krumme Takte besitzt. Genausowenig ist ein Popsong sofort schlecht, nur weil er im Ohr bleibt oder hohen Wiedererkennungswert besitzt. Und wenn ich beim Wort "progressiv" an die eigentliche Bedeutung des Wortes denke, sind für mich Songs wie "No Reply At All", "Who Dunnit?", "Mama", "Silver Rainbow" "No Son Of Mine", "Driving The Last Spike", "I Can't Dance", "Dreaming While You Sleep" oder "The Dividing Line" schon mal deutlich progressiver oder zumindest einzigartiger im Genesis-Werk als z.B. "Firth Of Fifth" oder "Cinema Show" (deren Aufbau später mit "One For The Vine", "Tonight Tonight Tonight", "Home By The Sea", "Fading Lights", "There Must Be Some Other Way" etc. noch x-mal kopiert wurde). Das rechtfertigt sicher eine hohe Anerkennung in der Entwicklung von Genesis und sagt absolut gar nichts darüber aus, ob ein "Supper's Ready" anspruchsvoller ist oder intelligentere Akkordfolgen hat.
anixek hat geschrieben:Steve*s Einfälle wurden ignoriert, also logische Schlußfolgerung für ihn zu gehen!
Naja, da gibt es immer zwei Seiten. Die andere ist die, dass Steve nicht einfach einen "größeren Anteil" eingeräumt haben wollte, sondern exakt 25% gefordert haben soll - unabhängig von der Qualität seines Inputs!
Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte - von uns war niemand dabei und es ist schon wieder fast 40 Jahre her, da dürfte sich jeder der vier nur noch an die eigene Wahrheit erinnern. Tatsache ist ja auch, dass Steve erst später zu den Aufnahmesessions zu "A Trick Of The Tail" dazugestoßen war, weil er mit seinem Soloalbum beschäftigt war. Daher ist sein Kompositionsanteil an diesem Album auch so gering. Gut vorstellbar, dass besonders Tony deshalb auf ihn sauer war und es nicht einsehen wollte, dass die Tantiemen in vier gleiche Teile geteilt werden sollten. Ich vermute, Steve hatte andererseits auch Schwierigkeiten sich bei den Jams von Phil, Mike und Tony richtig einzubringen, und wurde dadurch auch ein wenig herausgedrängt (wenn vielleicht auch unbewusst). Den Jam-Nukleus Banks/Collins/Rutherford gabs ja, wie gesagt, schon seit 1972.
Ich denke jedenfalls, dass sich die Wege von erst Peter, dann von Steve und den restlichen Mitgliedern getrennt haben, war das Beste für alle Beteiligten. So konnten sich einerseits Genesis weiterentwickeln und verändern, andererseits auch Peter und Steve sich jeweils für sich entfalten. Interessant wäre es aber mal gewesen, später mal ein Hackett-Album vermischt mit dem Collins'schen Talent, die Dinge anzugehen, zu hören. Das wäre sicher mal ein interessantes Experiment geworden.